DIE RETTUNG 
DER SCHWEBEFÄHRE

Von PETER SCHÜTT

Aufgrund einer gütigen Fügung war mein Vater mit gerade einmal 1,54 Meter ungewöhnlich klein geraten. Wegen eines zu kurz gewachsenen Beines hatte er zudem Probleme mit dem aufrechten Gang. Diese beiden Schönheitsfehler bewahrten ihn im Zweiten Weltkrieg davor, jemals "kriegsdienstverwendungsfähig" geschrieben zu werden. 

Statt als Soldat an die Front kommandiert zu werden, wurde er als Lehrer an der Heimatfront eingesetzt. Weil die meisten seiner Kollegen mitten im Krieg standen, wurde ihm die schulische Notversorgung von sechs winzigen Dörfern in der Ostener Umgebung übertragen. Am Montag gab er in der einklassigen Volksschule in Großenwörden Unterricht, am Dienstag in Hüll, am Mittwoch in Isensee, am Donnerstag in Altendorf, am Freitag in Engelschoff und am Sonnabend in Neulandermoor. 

Anfangs stand ihm noch ein Auto zur Verfügung, aber von 1943 an, als der Benzinverbrauch immer strenger rationiert wurde, musste er all diese Strecken von Basbeck aus mit dem Fahrrad bewältigen. Dabei musste er jeden Morgen und jeden Nachmittag die Oste mit der Ostener Schwebefähre überqueren. Immerhin besaß er eine Freikarte, die sogar für seine Familienangehörigen Gültigkeit hatte. Mein Vater liebte die Schwebefähre über alles, und im Gegensatz zu so manchem Ortsfremden, den beim Besteigen der Gondel ein leichtes Schwindelgefühl befiel, fühlte er sich bei der Überfahrt sehr sicher. 

Selbst in den letzten Monaten des Krieges, als die ständigen Tieffliegerangriffe jede Fortbewegung in freier Feldmark zu einem lebensgefährlichen Abenteuer machten, kannte mein Vater auf der Schwebefähre keinerlei Angst. Nie hätten die britische Tiefflieger auch nur einen einzigen Angriff auf die Fähre geflogen, erzählte er später. Offenbar sei ihnen die kühne Eisenkonstruktion aus luftiger Höhe betrachtet so vollkommen und unantastbar erschienen, dass kein Pilot es übers Herz gebracht hatte, dieses Wunderwerk der Technik mutwillig zu zerstören.

Mein Vater hatte die Tauglichkeitsstufe 5. Doch so wenig ihn diese schlechte Note daran hinderte, in jeder Dorfschule jeden Tag eine Stunde Wehrertüchtigungsunterricht zu erteilen, so wenig konnte sie verhindern, dass er im traurigen Monat November 1944 den Befehl erhielt, in Basbeck eine Volkssturmeinheit zur Verteidigung der Ortschaft aufzustellen und selber den Oberbefehl zu übernehmen.

Mein Vater bemühte sich redlich, alles in seiner Kraft Stehende zur Abwehr des Feindes zu leisten. Er sammelte eine Schar von 30 auserwählten Alten, Verwundeten, Lahmen, Kranken und Ausgerasteten um sich und übte mit ihnen allmorgendlich den Aufbruch zum letzten Gefecht. Anfangs hatte mein Vater, der über keinerlei Fronterfahrung verfügte, noch eine fast romantische Vorstellung vom Kriegsgeschehen. Er nahm an, der Feind würde mit Landungsbooten von See her über die Oste ins Landesinnere vorstoßen und vom Fluss aus über die Deiche zu krabbeln versuchen. Darum grub seine Truppe entlang des Ostedeiches lauter Einmannunterstände aus, aus denen heraus die Volkssturmmannen die eindringenden Feinde unter Beschuss nehmen sollten. 

Doch schon bald zwang die militärische Lage die Organisatoren der Heimatverteidigung zum strategischen Umdenken. Man musste jetzt damit rechnen, dass die alliierten Truppen der Amis und Tommis von Süden her über Land vorrücken und das Dorf angreifen würden, und traf geeignete Gegenmaßnahmen. Geplant wurde, die Brücke über den Ihlbecker Kanal unpassierbar zu machen, falls die Feinde über Hechthausen kommen sollten. Sollte der Vorstoß jedoch von Kehdingen aus erfolgen, dann war vorgesehen, auch die Ostener Schwebefähre in die Luft zu sprengen.

Am 17. April 1945 war es soweit. Britische und amerikanische Panzerverbände waren fast ohne Widerstand bis Himmelpforten gerollt und hatte mithilfe einer Pontonbrücke die Oste bei Hechthausen überwunden. Der Donner der vorrückenden Tanks war bis Basbeck zu hören, doch die folgende Nacht blieb ruhig. Die meisten Volksstürmer nutzten die Gunst der Stunde, um sich geräuschlos von der Truppe zu entfernen. Übrig blieben ganze zwölf. Mein Vater schickte die eine Hälfte zum Ihlbecker Kanal, damit sie dort durch die Sprengung der Brücke den Panzern den Weg versperrten. Für die andere Hälfte übernahm mein Vater selbst das Kommando. 

Ihm waren außer Übungsmunition und Platzpatronen ganze drei Panzerfäuste geblieben. Damit sollte jetzt die Schwebefähre außer Gefecht gesetzt werden. Als von Großenwörden her das Rattern der Panzerketten immer lauter zu hören war, schritt mein Vater im Bewußtsein seiner Verantwortung zur Tat. Er liebte, wie gesagt, die Fähre wie seinen Augapfel, und darum traf er mit seinen drei Panzerfäusten so gezielt daneben, dass sie im Wasser der Oste zwar mächtige Fontänen auslösten, aber den Pfeilern der Fähre und ihrer Gondel nicht den geringsten Schaden zufügten. 

Nach vollbrachter Heldentat kletterte er auf den Deich und sah nach Basbeck herüber. Deutlich konnte er erkennen, dass jetzt von den beiden höchsten Punkten des Dorfes, von der Kirche und der Mühle, weiße Fahnen wehten. Er entließ den letzten Rest seiner Truppe und beeilte sich, nach Hause zu kommen, um vom sicheren Keller aus den Einmarsch der Alliierten zu beobachten.

Während mein Vater sich in der Ruhe vor dem Sturm auf den Nachhauseweg machte, besetzten drei britische Panzer von Großenwörden aus fast geräusch- und widerstandslos das Dorf Osten. Minuten später standen die Befreier staunend vor der Fähre. Fährmann Ahlff war zur Stelle und bekundete seine Bereitschaft, auch unter den neuen Herrn seine Pflicht zu tun. 

Als jedoch ein Panzer auf die Gondel zurollte, lief er ihm händeringend und mit weißen Taschentüchern wedelnd entgegen. "No tanks!", rief er den Engländern politisch korrekt und den neuen Machtverhältnissen angepasst entgegen, "too heavy!" Und die Tommis kapierten sofort. "Okay", antworteten sie. Und dann kletterten dreißig britische Infanteriesoldaten gutgelaunt und aus voller Kehle singend auf die Gondel der Schwebefähre und dümpelten damit schunkelnd und siegestaumelnd über die Oste. Auf der Basbecker Seite wurden sie stürmisch von der Besatzung eines amerikanischen Centurion-Tanks begrüßt. Basbeck und Osten waren befreit, ohne dass der Schwebefähre ein Leids geschah. 

Undank ist bekanntlich der Welt Lohn. Mein Vater erntete für seinen Einsatz an der Fähre nach dem Krieg nur Hohn und Spott. Hätte er damals die Schwebefähre tatsächlich in die Luft gejagt, dann wäre sie mit Sicherheit nie wieder aufgebaut worden. Denn das Bauwerk war in technischer Hinsicht auch 1945 schon ein Anachronismus, und der Sinn fur den Erhalt wundersamer Landmarken fehlte in den ersten Jahren nach dem Krieg vollkommen. 

Nach der Erledigung seines Kampfauftrages hielt mein Vater sich drei Wochen im Keller versteckt. Dann holten ihn zwei Militärpolizisten ab und steckten ihn für fast drei Jahre ohne Urteil in ein Umerziehungslager. 

Auf die Rückseite der Briefe, die er von dort einmal im Monat nach Hause schreiben durfte, hatte er jedes Mal eine filigrane Umrissskizze vom Gerüst der Schwebefähre gezeichnet. 




Neben Peter Rühmkorf ist Peter Schütt der wohl bedeutendste Schriftsteller, der im Elbe-Weser-Dreieck bei Hemmoor geboren ist; siehe dazu einen Artikel von Schütt über die "heimliche Literaturhauptstadt" im Hamburger Abendblatt. Zweimal hat Schütt - der sich im Laufe der Zeit  vom KP-Funktionär zum bekennenden Muslim gewandelt hat - die Schwebefähre zwischen Basbeck und Osten besungen. 

Erinnerungen an 
die Schwebefähre

Sie war das Wunderwerk 
in unseren Kindheitstagen.
Schwebend hat sie uns 
herübergetragen aus dieser Welt
in die Welt unserer Träume.
Für einen Groschen
schwebten wir zwischen Himmel und Erde
von Basbeck 
                        herüber
                                         nach Osten.

In einer Gondel
glitten wir dahin,
hinüber zu neuen Ufern,
von Krähwinkel herüber 
ins Paradies,
wo es die süßesten Sahnebonbons gab,
die saftigsten Kirschen im Sommer
und im Herbst die dicksten Äpfel.
Hoch in den Wolken 
war die Gondel aufgehängt
an den Achsen vom Himmelswagen.
Schwerelos 
                       glitten wir
                                             übers Wasser.

Mit sanftem Ruck
machten wir uns los
vom Basbecker Ufer,
die Himmelsfahrt begann,
der Himmelsfahrtwind pfiff
um unsere Segelohren,
mit sanfterem Ruck
dockten wir
auf der Ostener Seite an.
Noch himmelstürmender war die Überfahrt,
wenn wir hochoben händchenhaltend
auf dem Heuwagen saßen
zur Rechten des Vaters
und die Kirchturmspitze in Osten
mit eigenen Händen greifen konnten.
Aber mein höchstes Glück war es,
hoch zu Roß
                       mit der Fähre
                                                 überzusetzen.

Zwischen Himmel und Erde,
zwischen Basbeck und Osten
auf halbem Wege
verwandelte sich
der lahme Ackergaul
in ein fliegendes Pferd.
Die Gondel, das Pferd, mein Herz:
Wir alle hatten Flügel 
und schwebten
                 schräg vom Kirchenschiff
                                                 in die andere Welt.


Die Schwebefähre
von Osten an der Oste,
bei Mondschein vom
anderen Ufer aus betrachtet

Die Sonne geht im Orient auf.
Der Mond nimmt in Osten seinen Lauf. 
Gottes himmlische Galeere 
fährt am liebsten Schwebefähre.

Die Gondel, hoch am Firmament,
verbindet, was die Oste trennt. 
Und bringt den Mond, die gelbe Chimäre, 
dümpelnd über die Schwebefähre. 

Drüben liegt ein andres Land, 
liegt Osten,liegt mein Samarkand. 
Wie ein Mond, fern aller Erdenschwere,
schweb ich auf der Schwebefähre. 

Vom Kirchturm am andern Ufer 
hör ich den nächtlichen Rufer. 
Aus der irdischen in die mondliche Sphäre
trägt mich träumend die Schwebefähre. 

Das Fahrgestänge ächzt,
die Nebelkrähe kreischt und krächzt. 
Der Mond, der Helle, Hehre 
irrlichtert im Geäst der Schwebefähre. 

Zu neuen Ufern trägt mich sutje-sutje
Ostens transzendente Kutsche. 
Meine mond- und sternsüchtige Karriere
start ich im Kosmodrom der Schwebefähre. 
 

Mehr zum Thema Schwebefähren in der Dichtung in unserer Rubrik LITERATUR.
 

www.schwebefaehre.org



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