Hemmoor, heimliche literarische Hochburg

                    Von Dichtern und Dörfern
                    Diese kleine Heimat hat Welthorizont: Zwischen
                     Kehdinger und Hadelner Land waren und sind
                     große norddeutsche Geister zu Hause.

                     Von PETER SCHÜTT

                     Peter Rühmkorf, so heißt es in allen einschlägigen
                     Biographien und Nachschlagewerken, wurde in
                     Dortmund geboren. Der Geburtsort stimmt; es war
                     ein evangelisches Krankenhaus am Rande der
                     großen Stadt. Aber großgeworden ist der Lyriker
                     nicht im Ruhrgebiet, sondern in einem kleinen
                     Dorf an der Niederelbe namens Warstade. Dort
                     hat er - vaterlos - die ersten 20 Jahre seines
                     Lebens zugebracht. Seine Mutter waltete an der
                     Dorfschule zeit ihres Berufslebens als
                     pflichtbewußte und fromme Lehrerin ihres Amtes.
                     Und sie betätigte sich, was Sohn Peter seinen
                     Lesern gern verschweigt, nebenher als
                     Heimatdichterin.
                         Elisabeth Rühmkorf - sie ist 1989 im Alter von
                     94 Jahren gestorben - hat zu ihren Lebzeiten drei
                     kleine Bücher mit Gedichten und Geschichten
                     veröffentlicht, in denen sie Zeugnis ablegt von
                     ihrer Heimatliebe, ihrer pädagogischen
                     Begeisterung und ihrem Gottvertrauen. Peter
                     Rühmkorf verdankt seiner Mutter wohlmöglich
                     mehr, als er sich und den Lesern seines
                     Tagebuchs "Tabu I" zugestehen mag: die Lust
                     und die Liebe zum Reim, und sei er ironisch
                     gebrochen, und die Vertrautheit mit dem
                     schnoddrigen Umgangston der Nieder- und
                     Norddeutschen. Wie sehr Rühmkorf von seiner
                     Mutter profitiert hat, zeigt am deutlichsten seine
                     Sprüche- und Spottverssammlung "Über das
                     Volksvermögen", in der er ausgiebig auf die
                     mütterlichen Zettelkästen zurückgegriffen hat.
                         Elisabeth und Peter Rühmkorfs Heimatort
                     Warstade ist heute auf der Landkarte nicht mehr
                     zu finden. Das Dorf wurde im Zuge der
                     niedersächsischen Gemeindereform mit sechs
                     anderen Dörfern zur Samtgemeinde Hemmoor
                     zusammengelegt. Ein paar Jahre später erhielt
                     Hemmoor mit seinen 9000 Einwohnern das
                     Stadtrecht. Bis in die 70er Jahre war die Stadt ein
                     Industriestandort, geprägt durch eine
                     Zementfabrik, die vor dem Ersten Weltkrieg mehr
                     als 3000 Arbeiter, zur Hälfte Polen, beschäftigte.
                     Aus dieser Zeit ist noch die Schwebefähre, die
                     zwischen den Ortschaften Basbeck und Osten die
                     Oste überspannt, erhalten, heute ein technisches
                     Denkmal mit beachtlicher Anziehungskraft, das
                     einzige seiner Art in Deutschland.
                         Inzwischen hat sich Hemmoor einen Namen als
                     regionales Kulturzentrum im Elbe-Weser-Dreieck
                     gemacht. Ein bemerkenswertes Heimatmuseum
                     erinnert nicht nur an die industrielle Vergangenheit
                     des Ortes und präsentiert mit den "Hemmoorer
                     Eimern" bedeutende Bronzefunde aus der Zeit um
                     Christi Geburt. Eine Besonderheit, wie sie weit und
                     breit kein anderes regionalgeschichtliches Museum
                     aufzuweisen hat, ist die literarische Abteilung in
                     der Hemmoorer "Kulturdiele". Darin wird nicht nur
                     Elisabeth Rühmkorfs vorsintflutliche
                     Schreibmaschine aufbewahrt, sondern eine
                     dichterische Tradition über einen Zeitraum von
                     fast drei Jahrhunderten dokumentiert.
                         Die Landschaft des "nördlichen Mesopotamien",
                     des Zweistromlandes zwischen Elb- und
                     Wesermündung, erwies sich schon früh als kleine
                     Heimat mit Welthorizont.
                         Im nahen Lüdingworth wurde 1733 Carsten
                     Niebuhr geboren, der Arabienreisende, den Herder
                     als "ersten deutschen Hadji" verehrte und den
                     Goethe bis hin zum "Westöstlichen Diwan" immer
                     wieder zu Rate zog.
                         Im nahen Otterndorf übersetzte Johann
                     Heinrich Voß, Lehrer an der Lateinschule, Homers
                     "Odyssee" aus dem Griechischen ins Deutsche und
                     erholte sich von der Mühsal des Übersetzens beim
                     Verfassen kleiner Verse und Idyllen in
                     niederdeutscher Mundart - ein halbes Jahrhundert
                     vor Reuter und Groth.
                         Unmittelbar aus den Dörfern des heutigen
                     Hemmoor stammen zwei niederdeutsche Autoren
                     von zumindest regionaler Bedeutung, Johann
                     Rathje (1859-1928) und Heinrich Teut
                     (1868-1963).
                         Rathje, Lehrer, Kantor und Organist, hat hoch-
                     und plattdeutsche Lyrik geschrieben, er hat
                     Fachbücher für den niederelbischen Obstbau
                     veröffentlicht und sich seinerzeit als Verfasser
                     eines heute eher skurril anmutenden
                     pädagogischen Leitfadens hervorgetan: "Kaisers
                     Geburtstag in der Landschule".
                         Heinrich Teut war Postamtmann. Er schrieb
                     etliche Fachbücher für den Post- und
                     Telegrafendienst, veröffentlichte fünf
                     plattdeutsche Lyrikbücher und gab schließlich im
                     Alter von fast 90 Jahren sein Lebenswerk heraus,
                     einen vierbändigen "Niederdeutschen Wortschatz
                     des Landes Hadeln".
                         Teut war der niederdeutschen
                     Heimatkunstbewegung um die Jahrhundertwende
                     auf vielfältige Weise verbunden. Als Amtsleiter
                     verschaffte er dem schwerkranken Dramatiker
                     Hermann Boßdorf kurz vor dem Ersten Weltkrieg
                     eine Stelle im Basbecker Telegrafendienst. Da es
                     dort wenig zu tun gab, konnte sich Boßdorf von
                     seiner Lungenkrankheit erholen und fand auch
                     Zeit zum Schreiben. Sein düster
                     expressionistisches Mysteriendrama "De Fährkrog"
                     ist in dieser Zeit entstanden und verarbeitet einen
                     geheimnisvollen Mordfall im Basbecker Fährkrug
                     am Osteknick, der damals die Gemüter erregte.
                         Alfred Vagts, Lyriker und Historiker, wurde
                     1892 als Sohn des Windmüllers in Basbeck
                     geboren. Er besuchte zunächst die "Vossische"
                     Lateinschule in Otterndorf, machte sein Abitur in
                     Hannover und ging dann zum Studium nach
                     München, wo er rasch in Kontakt mit den
                     führenden Repräsentanten des Expressionismus
                     kam. In der Zeitschrift "Aktion" veröffentlichte
                     Vagts, seit 1915 Kriegsteilnehmer, regelmäßig
                     Gedichte gegen den Krieg, die er bei Kriegsende
                     zu einem eigenen Band zusammenstellte: "Ritt in
                     die Not".
                         1917 nimmt Alfred Vagts als Vertreter des
                     "Rates der Offiziere" an den
                     Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk teil,
                     1919 beteiligte er sich aktiv an der Münchner
                     Räterepublik, brach jedoch bald mit der radikalen
                     Linken. In der Weimarer Republik arbeitete Vagts
                     als Historiker am Hamburger Institut für
                     auswärtige Politik. 1933 emigrierte er in die USA
                     und lehrte später deutsche Geschichte an der
                     Harvard University. Seine wissenschaftlichen und
                     essayistischen Bücher, darunter sein Hauptwerk
                     "History of Militarism", schrieb er durchweg auf
                     englisch.
                         Der lokale Genius trägt bis heute Früchte.
                     Heute sind in Hemmoor und Umgebung immerhin
                     fünf Autoren seßhaft, die sich von den
                     niederelbischen Flußlandschaften in ihrer Arbeit
                     inspirieren lassen.
                         Hans-Hinrich Kahrs gilt als einer der
                     produktivsten niederdeutschen Hörspielautoren.
                         Jürgen Petschul schreibt Kriminalromane, die
                     allesamt in der Region angesiedelt sind. Im
                     "Herbst der Amateure" versucht er die lokale
                     Kleinkriminalität mit der globalen Verbrecherwelt in
                     Verbindung zu bringen.
                         Ursula Kirchberg, die seit 30 Jahren im
                     benachbarten Lamstedt wohnt, hat sich als
                     Kinderbuchillustratorin und -autorin einen Namen
                     gemacht.
                         Spiritus rector des Hemmoorer
                     Literaturbetriebes ist Heiko van Dieken. In seinem
                     Buch "Marschbefehl und Krippenspiel" erinnert er
                     an seine Jugendjahre unmittelbar nach dem
                     Zweiten Weltkrieg.
                         Last not least: Aus Hemmoor kommt der
                     begabteste Nachwuchsautor der niederdeutschen
                     Literaturszene, der 31 Jahre alte Bernhard Koch.
                     Mit seinem literarischen Debüt, der bei Hinstorff in
                     Rostock erschienenen Sammlung postmodern
                     skurriler und grotesker Kurzgeschichten,
                     "Steernkinner und stumme Vogels", hat er über
                     die plattdeutschen Zirkel hinaus Furore gemacht
                     und vor Ort beträchtlichen Unmut erregt, weil der
                     eine oder andere Hemmoorer sich in Kochs Buch
                     wiedererkannt hatte. Die lokale Buchhandlung hat
                     das Werk seither nicht mehr im Schaufenster.