FAZ-Urteil: Eine 'grüne Weltgeschichte', wie
man sie bisher noch kaum irgendwo lesen konnte.

Auszug aus Jochen Radkau:
Die Ära der Ökologie, S. 235 ff.

Vom Atomkonflikt zum «Waldsterben»: eine verwirrende Wende. Die auslösende Rolle bestimmter Medien ist bei demjenigen Thema besonders augenfällig, das nach 1980 jahrelang zu dem Leitmotiv bundesdeutscher Umweltdiskurse wurde, ähnlich wie dies bis kurz davor die Kernenergie gewesen war, und das sogar noch stärker einen spezifisch deutschen Pfad in der Öko-Ära markiert: dem «Waldsterben»! Die Schadenswirkungen des sauren Regens wurden von Skandinavien bis Nordamerika diskutiert, ab 1983 waren sie sogar das Topthema der durch die Rückkehr von Ruckelshaus reaktivierten EPA, aber das Schlagwort «Waldsterben» war deutsches Eigenbräu. ...

Den Startschuss gab am 16. November 1981 der Spiegel mit seinem Titel: «Der Wald stirbt - Saurer Regen über Deutschland». Oben auf dem Titelbild ein Wald rauchender Schlote, deren mittlerem dicker schwefelgelber Qualm entquoll; drunten ein schütterer Stangenwald, der oben bereits angebräunt war. Nach einer noch etwas unschlüssigen Phase erreichte der Alarmchor in der deutschen Medienlandschaft 1983 seinen Höhepunkt. ...

Wie erklärt sich dieser Großalarm, der durch deutsche Umweltdiskurse der 1970er Jahre in keiner Weise vorbereitet war? Oder war er doch vorbereitet? Eine Merkwürdigkeit besteht darin, dass schon 1979 ein großer Band Rettet den Wald erschienen war, eindrucksvoll aufgemacht und medienwirksam präsentiert. ... Aus der Rückschau verblüfft, dass das Stichwort «saurer Regen» in dem umfangreichen Register fehlt und die Schäden durch Schwefeldioxid in dem gesamten umfangreichen Band nur mit einem einzigen Satz er wähnt werden. ... Die gesamten 1970er Jahre hindurch war der Wald denn auch kein irgendwie integrierendes Thema der Umweltbewegung.

Ganz anders wurde das mit dem neuen «Waldsterben»-Alarm: Durch diesen gerieten Jäger und konventionelle Forstleute erst einmal aus der Schusslinie, und die neue Sorge um den Wald führte sogar Natur- und Umweltschützer zusammen. Eigentlich hatte das Thema «saurer Regen» bereits am Anfang der Öko-Ära gestanden. Aber 1972 hatten die Schweden auf der Stockholmer Konferenz vergeblich versucht, die Deutschen und andere Nationen für dieses Umweltproblem zu erwärmen. Sobald sie damit drohten, an Verursacherländer wie die Bundesrepublik Schadenersatzansprüche zu stellen, machten die Deutschen dicht, und ein Bonner Kabinettsbeschluss machte den Ferntransport von Schwefeldioxid zu einem «Nichtthema». Nun jedoch, da der deutsche Wald be droht schien, bekam der saure Regen auf einmal höchste Priorität. Aus der Umweltbewegung war dieses Leitmotiv nicht hervorgegangen, und es bot auch wenig Objekte für Bürgerinitiativen und Demonstrationen, wenn man von den Schornsteinkletterern von «Robin Wood» absieht, die es ganz auf den Medieneffekt abgesehen hatten. Dafür wurde die ge samte Szenerie des bundesdeutschen environmentalism durch das Leitmotiv «Waldsterben» von Grund auf verändert, und Fronten gerieten durch einander. Nicht mehr die Kernenergie, sondern die Kohle wurde zum Hauptgegner: eine peinliche Wende für Sozialdemokraten, für die die Solidarität mit den Ruhrkumpeln geheiligtes Traditionsgut war. Dafür entstand schlagartig eine Verbindung zum Hauptstrom der deutschen Waldromantik.

Der Umweltschutz wird zur deutschen Volksbewegung. «Wenn's um den Wald geht, da kriegen wir eine Volksbewegung», sah der Münchener Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel kommen. 1985 schrieb Carl Amery: «Das Waldsterben war das erste gewaltige Schock-Erlebnis ökologischer Natur, welches die ganze Nation trifft und betrifft.» Und noch aus späterer Rückschau urteilen zwei Umwelthistoriker: «Man darf bezweifeln, ob es den <Grünen> auch ohne die Waldsterbensdebatte gelungen wäre, im März 1983 mit 5,6 Wählerstimmen zum ersten Mal in den deutschen Bundestag einzuziehen»  - und dabei lenkte das Waldsterben von dem Atomkonflikt, aus dem die Grünen hervorgegangen waren, erst einmal ab. Auch konservative Milieus, die von den Prügelszenen zwischen K-Gruppen und Polizei am Bauzaun von Kernkraftwerken verschreckt worden waren, fühlten sich von nun an der Umweltbewegung im geistigen Sinne zugehörig. Und wenn es für Bürgerbewegungen hier wenig zu tun gab, so bekam die neue von der CDU geführte Bundesregierung Kohl dafür eine glänzende Gelegenheit, sich gleich vom Start weg umweltpolitisch markanter zu profilieren, als dies die vorangegangene Regierung des Sozialdemokraten Helmut Schmidt je vermocht hatte: mit der Großfeuerungsanlagen-Verordnung von 1983, die für Kraftwerke Rauchgasentschwefelungsanlagen vorschrieb. Es handelte sich um ein Milliardenprojekt und war die bis dahin bei Weitem größte Einzelmaßnahme des deutschen Umweltschutzes.

Die Forderung danach stand längst im Raum; die Schädlichkeit des Schwefeldioxids für die Vegetation war seit dem 19. Jahrhundert bekannt; aber bis dahin hatten sich die führenden Energieversorgungsunternehmen stets damit herausgeredet, solche Anlagen seien nicht «Stand der Technik». Dabei wies der TÜV schon 1974 darauf hin, dass solche Anlagen in Japan bereits mit Erfolg betrieben würden. Um 1980 nahm auch das Großkraftwerk Mannheim, ein alter Gegenspieler der Elektrogiganten, eine solche Großanlage in Betrieb und schuf damit einen nicht mehr zu leugnenden Stand der Technik, auf den sich die Regierung Kohl berufen konnte. Die drastische Senkung der Schwefelemissionen trug mit dazu bei, dass der Waldsterben-Alarm statt zu einer self-fulfilling zu einer self-refuting prophecy wurde: Er gab den Anstoß zu Maßnahmen, die die Waldschäden verminderten, und wurde überdies für viele Umweltinteressierte zum Impetus, sich über die Waldschäden hinaus in Fragen der Waldökologie einzuarbeiten....

... Auch aus heutiger Sicht war die damalige Sorge nicht unbegründet. Eine immer weiter zunehmende Bodenversauerung bedroht tatsächlich solche Wälder, die ohnehin auf sauren Böden wachsen; bislang wird sie durch Kalkung wettgemacht, aber ob sich diese Methode unbegrenzt fortsetzen lässt, ist fraglich. Auch wenn man die Offenheit mancher Fragen erkennt, entsprachen doch intensive Debatten und Vorkehrungen gegen Eventualitäten ganz dem in der Öko-Ära proklamierten Vorsorgeprinzip.