"Früher als andere
witterte er Entwicklungen"

Das "Info für SPIEGEL-Mitarbeiter" 2010
zur Verabschiedung von Jochen Bölsche


Von SPIEGEL-Redakteur Norbert F. Pötzl

An SPIEGEL-Dienstjahren wird Jochen Bölsche nur von Rudolf Augstein übertroffen: Mit 20 Jahren fing er, nach einem Volontariat bei der »Hannoverschen Allgemeinen Zeitung«, am 1. Januar 1966 als Redaktionsassistent in der Redaktionsvertretung Hannover an: »Da sah ich noch aus wie ein Konfirmand, aber das störte niemanden.« Gut ein Jahr später wechselte er in die Hamburger Zentrale, damals noch im Pressehaus am Speersort, als Redakteur im D-ll-Ressort.

Schon während seiner Schulzeit, als Mitglied der FDP-nahen Jungdemokraten, war der Polizistensohn aus dem niedersächsischen Lehrte von dem SPIEGEL-Gründer fasziniert: »Augstein war mein Idol, längst bevor ich zum SPIEGEL kam.« Der Frühstarter war bald auch vorneweg, den SPIEGEL als Leitmedium und Meinungsführer im Gespräch zu halten: Früher als andere Journalisten witterte Jochen Bölsche gesellschaftspolitische Entwicklungen und neue soziale Bewegungen.

In den siebziger Jahren, als Datenschutz noch eine spröde Materie für spezialisierte Juristen war, lange vor der breiten Volksbewegung gegen die Volkszählung 1983, warnte er anschaulich vor der Gefährdung der Privatsphäre und verbriefter Grundrechte: In der neunteiligen Serie »Das Stahlnetz stülpt sich über uns«, die dann auch als Buch (»Der Weg in den Überwachungsstaat«) erschien, malte er ein Schreckensszenario, wie die damals neuen Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung die bundesdeutschen Sicherheitsbehörden zu einer massenhaften Erfassung unbescholtener Bürger verleiteten - und er mahnte an, der grenzenlosen Datensammelwut gesetzlich Einhalt zu gebieten (was schließlich auch geschah).

Anfang der achtziger Jahre, bevor die Grünen als Partei gegründet waren, machte Jochen Bölsche, wieder in Serien und Titelgeschichten, auf Defizite im Umwelt- und Naturschutz aufmerksam: beispielsweise auf das Waldsterben. Auch aus diesen Geschichten entstanden SPIEGEL-Bücher (»Natur ohne Schutz«, »Die deutsche Landschaft stirbt«, »Das gelbe Gift«, »Was die Erde befällt...«). Letzteres zählte der Bund Naturschutz in Bayern »zu den wichtigsten Umweltbüchern dieses Jahrzehnts«. Vielfach wurde Bölsche ausgezeichnet, etwa 1983 durch die Deutsche Umweltstiftung.

Jochen Bölsche lässt sich freilich nicht auf ein paar Steckenpferde reduzieren, er ist vielmehr ein Generalist im besten Sinne: Es gibt fast kein Thema, über das er nicht in kürzester Zeit ein fundiert-analytisches und zugleich lebensnah-farbiges (Titel-)Stück abliefern kann, über Familien- oder Bildungspolitik ebenso wie über Zeitgeschichte oder Migration.

Als Rudolf Augstein 2002 starb, stellte Jochen Bölsche binnen 36 Stunden einen Sonderteil für die aktuelle SPIEGEL-Ausgabe zusammen. Und bereits einen Monat nach Augsteins Tod erschien ein von Bölsche herausgegebener Sammelband mit Augstein-Texten (»Schreiben, was ist«).

Seit 1981 war Bölsche stellvertretender Leiter des Ressorts D II, seit 1987 Ressortleiter. Als solcher verantwortete er die Berichterstattung über diverse vom SPIEGEL aufgedeckte Skandale. Von September 1994 bis Dezember 1998 leitete er als Chefredakteur das damals monatlich erscheinende SPIEGEL special. Dass er wegen eines Heftes zur Buchmesse 1997 (»Liebe, Laster, Literaten«) von Alice Schwarzers prüder »Emma« zum »Pascha des Monats« gekürt wurde, nahm er mit Humor.

Seit acht Jahren war Jochen Bölsche in »Altersteilzeit« tätig, die ihm Freiraum ließ für ehrenamtliche Aktivitäten an seinem neuen Lebensmittelpunkt in dem niederelbischen Dorf Osten an der Oste: als umtriebiger Werber für die Rettung der örtlichen Schwebefähre (eine der letzten acht weltweit), als ideenreicher Sprecher der AG Osteland, als Initiator der »Deutschen Fährstraße«. Da lässt sich leicht ausrechnen, dass von einem »Ruhestand« nach fast 45 SPIEGEL-Jahren nicht die Rede sein kann.


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