Jochen Bölsche: „Ich habe hier die
Freundlichkeit der Welt erfahren“

Der dienstälteste „Spiegel“-Redakteur
lebt in Osten, schwärmt von der
Schwebefähre, liebt Land, Leute und die Politik


NEZ-Redakteurin Frauke Heidtmann
in der Niederelbe-Zeitung, 10. 6. 2005

Der „Spiegel" ist eine Seite seines Lebens, aber eben nur eine Seite. Der andere Teil des Lebens von Jochen Bölsche spielt sich in Osten (... und Umgebung) ab. Dorthin hat es den dienstältesten „Spiegel"-Redakteur verschlagen und dort schwebt der 60-Jährige in heimatlichen Sphären.

Jochen Bölsche zu erleben, ist schon ein Erlebnis für sich. Irgendwie umgibt ihn die Aura gelebter „Spiegel"-Geschichte. Vor 38 Jahren begann seine Karriere bei Deutschlands politischem Vorzeige-Magazin eher durch Zufall.

Der Polizistensohn aus Lehrte bei Hannover engagierte sich schon mit 13 Jahren in der evangelischen Jugend, kämpfte um die Rechte im Kreisjugendring, trat den liberalen Jungdemokraten bei, saß sogar im Landesvorstand, stritt mit dem heutigen EU-Kommissar Günter Verheugen für die diplomatische Anerkennung Israels und „konvertierte" dann später - wie auch Verheugen - zur SPD. Als Spiegel-Gründer Rudolf Augstein in seiner Schule über die neue Ost¬politik referierte, war für den jungen politisch interessierten Bölsche die Faszination perfekt. „Er war mein Idol, längst bevor ich zum Spiegel kam."

Mit 16 schon engagiert
im Lokaljournalismus

Zunächst stritt Bölsche aber als Nachwuchsjournalist für die Schülerzeitung „WIR" und wurde alsbald für die Regionalausgabe der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (HAZ) entdeckt. Mit gerade mal 16 Jahren durfte er über den Politologen und Publizisten Alfred Grosser schreiben, der über das deutsch-französische Verhältnis referierte. Und Bölsche muss herzlich lachen, als er davon erzählt, wie er damals über eine Modenschau berichten musste. „Mit 300 Frauen im Saal und ich wusste nicht mal was Pret-ä-porter ist..."

Der Einsatz hatte sich gelohnt: Jochen Bölsche absolvierte nach dem Abitur ein Volontariat bei Niedersachsens größter Tageszeitung und brillierte mit doppeldeutigem Humor. „Opfer" seiner Berichterstattung wurde ein gern zechender Landespolitiker mit dem Namen Linde. Als nämlich Jochen Bölsche über Sturmschäden berichten musste, lautete die Überschrift: „Linde lag quer über Fahrbahn". Der angehende Redakteur sorgte damit für kräftigen Medienwirbel, der „Spiegel" hievte die Meldung (ungekürzt) in die Rubrik Personalien. „Dafür gab's damals schon 60 Deutsche Mark", freut sich Bölsche noch im nachhinein.

Es dauerte wieder nicht lange: Das Nachrichtenmagazin suchte für das hannoversche Büro einen Korrespondenten und erinnerte sich an den pfiffigen HAZ-Volontär. Der Ruf aus Hamburg zum Vorstellungsgespräch ereilte ihn. „Dass ich mit meinen 20 Jahren wie ein Konfirmand aussah, störte niemanden." Damit war eine neue „Nachrichtenfeder" für das renom¬mierte Montagsmagazin geboren. Bölsche gehört zu den „Augsteinianern", darauf ist er heute noch stolz.

Rudolf Augstein, legendärer Herausgeber und Chefredakteur, hat schließlich auch ihn geprägt. Jochen Bölsche wurde Ressortchef, Chefredakteur von Spiegel special und ist Herausgeber diverser Spiegel-Bücher, darunter auch „Rudolf Augstein - Schreiben, was ist". Dieses Werk gibt's sogar in chinesischer Fassung.

Der Mann sorgte mit mancher „Spiegel"-Titelgeschichte (Der Wald stirbt; Der geplünderte Mann - Scheidung tut weh; Der letzte Deutsche; Die Rache der Flüsse; 100 Tage im Herbst) für Aufsehen und Anregung. Den wissenshungrigen Vollblutjournalisten bezeichnet sein heutiger Chefredakteur Stefan Aust so: „Jochen Bölsche ist ein phänomenales Schreibgenie: man füttert ihn oben mit Aktenordnern und unten kommt eine fertige Geschichte heraus".

Keine Angst vor
Denkmalschutz...

In der Ostener Fährstraße kaufte Jochen Bölsche („An der Sektbar beim Feuerwehrball...") ein denkmalgeschütztes Haus, restaurierte es stilecht („Ich sage immer: Keine Angst vor Denkmalschutz") und fühlt sich mit Blick auf die Schwebefähre „zuhause". Das „Spiegel"-Urgestein ist angekommen.

Die Ostener schätzen ihren prominenten Mitbürger (inklusive Mitgliedschaft in der Schützengilde und mit Ehrennadel des Angelvereins), der vor allem auch ein mitmischender Überzeugungstäter ist. Bölsche hilft, initiiert, diskutiert und feiert mit ihnen. „Osten hat Charme, der Ort hat die Nähe des Dorfes ohne die Enge eines Dorfes", sagt Bölsche. Der Mann des geschliffenen Wortes schnackt gern, weiß so ziemlich alles aus dem Ort und kann herzhaft lachen. Schnell ist ein Gespräch gefunden, über „Menschen, Tiere, Emotionen..." Und weiter: „Ich habe hier die Freundlichkeit der Welt erfahren“, schwärmt er.

Vor rund 15 Jahren schipperte der Hamburger erstmals mit seinem Kajütboot „Jan" auf der Oste und seit dieser Zeit war's um ihn geschehen, Zunächst erwarb er ein Tagelöhnerhaus am Rönndeich, dann das stattliche Anwesen in der Fährstraße. Seit einiger Zeit arbeitet Jochen Bölsche „nur" noch im Winterhalbjahr in der Hamburger „Spiegel-Tretmühle", im Sommerhalbjahr lebt er ganz in Osten. Mit dem Landleben in der Fährstraße begann ein neuer Lebensabschnitt.

Jochen Bölsche ist der „Motor", Ideengeber und „Trommler" im Engagement um die Rettung der Schwebefähre, die Gründung der AG Osteland und die Werbung für die Deutsche Fährstraße. Er trägt die Leidenschaft für die Osteregion in die Welt. Internetseiten hat er eingerichtet, informiert täglich aktuell über den Stand der Dinge, ist ein „Vernetzer" im wahrsten Sinne des Wortes. Flyer hat er auf den Markt gebracht, den „Goldenen Hecht" der AG Osteland mit erfunden, Bölsche hat sozusagen mit seiner rührigen Öffentlichkeitsarbeit den idyllischen Fluss aus dem Dornröschenschlaf geweckt. Dass im kommenden Jahr der erste Ostener Fährmarkt stattfindet, darf er sich mit auf die Fahnen schreiben. Will er aber nicht!

Vielmehr rühmt er all die Mitstreiter für die gute Sache, freut sich über 36 neue Mitglieder in der Fördergesellschaft, zollt allen Ehrenamtlichen großen Respekt und gibt ob dieses Engagements gleich noch bekannt, dass durch Spendenbereitschaft bald wieder ein neuer Scheinwerfer zur Anstrahlung des herausragenden Bauwerkes gekauft werden kann. Bölsche war wieder betteln... Dabei wird er von Lebenspartnerin Renate unterstützt und von Enkeltochter Anne Lotte tituliert, für die Dreijährige ist er schlicht „Opa Schwebefähre".

Der Morgen beginnt mit
der Niederelbe-Zeitung

In Jochen Bölsches Adern fließt Tinte. Zutiefst ist er davon überzeugt, dass „die beste Journalistenschule immer noch die Lokalzeitung ist". Ohne die mag er nicht auskommen.

Der Tag beginnt für Bölsche um 6 Uhr morgens (eigentlich keine Zeit für Journalisten) mit dem Blick auf die geliebte Schwebefähre. Spätestens um Fünfnachsechs bringt Austräger Helmut Rusch die Niederelbe-Zeitung vorbei. Und der Tag beginnt... Heute mit einer Geschichte über einen nimmermüden Redakteur, der partout nicht wollte, dass man über ihn schreibt. Widerspruch zwecklos, Herr Bölsche. Wir danken für das Gespräch.


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