"Einer, den den Laden
prägte und mitriss"

Aus der Rede zur Verabschiedung
von Jochen Bölsche, 30. April 2010


Von SPIEGEL-Chefredakteur Mathias Müller von Blumencron 

Als guter Journalist sollte man die Finger von Themen lassen, bei denen persönliche Nähe das Urteil trüben könnte. Zumindest sollte man die Lage offenlegen - und das will ich tun: Ich habe Jochen Bölsche ganz viel zu verdanken. Er hat mich in diese Redaktion geholt, er hat mir rasch immer größere Themen gegeben, er hat darauf geachtet, dass dieses Abenteuer nicht schief ging.

Ich habe deshalb auch lange gedacht habe, dass es eine solche Feier nie geben wird - den Abschied von Jochen Bölsche vom Spiegel. Ich hatte gedacht, das geht nicht. Bölsche verlässt nicht den Spiegel. Nie. Höchstens würde der Spiegel Bölsche verlassen. Und was sollte dann aus dem Spiegel werden?

Einen wie Sie darf es, glaubt man unseren Geschichten, gar nicht geben: Als ich anfing, waren Sie schon 26 Jahre da. Heute sind es 45 Jahre. Ein Mensch, der sein Leben lang bei ein und demselben Laden arbeitet. Und zwar nicht nur arbeitet, sondern ihn prägte und mitriss. Der als jüngster kam. Der - mit nichts anderem ausgestattet als einer soliden Allgemeinbildung und einer fantastischen Neugier - einer der erfolgreichsten Redakteure der Republik wurde.

Er ist ein lebender Anachronismus, aber im positivsten Sinne.

Deswegen werden weder meine Worte, noch unsere kleine Feier dem gerecht werden, was Jochen Bölsche für den Spiegel geleistet hat. Über Jahrzehnte haben Sie dieses Blatt geprägt - mit genialischer Kreativität, mit manischer Schreibe. Es gibt wohl niemanden, der mehr geschrieben und redigiert hat in diesem Haus als Bölsche. Mit seinen Geschichten könnten wir leicht das neue Haus tapezieren. Und kaum jemand hat über die Jahre mit seinen Themen so viele Debatten losgetreten.

Ich weiß noch genau, wie ich in sein Ressort kam. Sie müssen sich die Situation vorstellen. Wir kamen in ein Ressort, von dem es hieß, es sei die Strafkolonie des deutschen Journalismus. Glücklicherweise stellte sich diese Gerücht nach wenigen Tagen als falsch heraus… Aber eines blieb doch furchteinflößend: Die Arbeitsweise von Jochen Bölsche.

Es war deprimierend. Denn wofür wir einen Monat brauchten - etwa eine mehrteilige Serie -, brauchte Bölsche  zwei Tage - höchstens. Wo wir noch nach neuen Themen suchten, hatte er bereits ein halbes Dutzend neuer Aufträge im Ressort verteilt, einer origineller als der andere. Und wo wir uns langsam an die neuen Technologien herantasteten - es gab damals eine eigenartige Innovation namens Internet - war Bölsche längst da.

Sie selbst schrieben unermüdlich. Es gab Leute, die hatten Probleme, mit Ihnen ins Gespräch zu kommen. Das lag, dass Sie anders waren: Bölsche atmete Geschichten.

Wir haben Sie dafür bewundert, aber auch dafür, wie Sie an die Welt heranging. Jedenfalls anders als wir. Für Bölsche war die Welt wie ein riesiger Baum voller Geschichten, man musste sie nur pflücken, genau anschauen und dann aufschreiben.

Und er fand sie immer. Meistens dort, wo sich andere nicht mehr hinbemühten. In den Meldungsspalten winziger Lokalzeitungen etwa. In den Hinterzimmern von St. Georg, wo er natürlich schon lebte, bevor der Stadtteil hip wurde. Wir hatten immer vermutet, dass er irgendein geheimes Gerät hatte, das ihm wie ein Barometer die Veränderung der Zeitläufte anzeigte, bevor es jemand anderes merkte. Aber es war sein untrüglicher Instinkt.

Und weil Sie alles eher wussten als die meisten anderen, waren Sie auch der Welt weit voraus. Sie fanden die Themen, wegen derer der Rest des Landes dann jahrelang diskutierte, protestierte, randalierte. Bei den großen Bürgerrechtsthemen der 80iger Jahre stand am Anfang ein Bölsche-Titel oder eine Bölsche-Serie. Bevor die Grünen überhaupt an ihre Gründung dachten, hatte er der Partei bereits ihre Agenda diktiert. Bevor der Protest gegen die Volkszählung den Datenschutz hervorbrachte, hatte er schon eine legendäre Spiegel-Serie "Das Stahlnetz stülpt sich über uns" geschrieben.

Es war eine laute Zeit mit klaren Fronten, klaren Gegnern. Es gab viel Feuer in der Luft. Die FAZ war ein rechtes Kampfblatt. Franz Josef Strauß spaltete mit seinen Tiraden das Land, die Union war bis in jede Verästelung konservativ ideologisiert. Und die SPD war eine Reformpartei - und zwar eine linke. Demonstrationen fanden nicht im Internet statt, sondern auf der Straße mit bis zu einer Million Protestierenden.

Entsprechend laut waren die Titel: Sie erfanden das Waldsterben mit dem legendären Zitat: "Wir stehen vor einem ökologischen Hiroshima". Sie dirigierten über Wochen die Barschel-Affäre. Es gab Titel, die lauteten: "Aufrüstung für den Bürgerkrieg", "Die Rache der Flüsse", "Saurere Regen - Lebensgefahr für Babys". Ihr Titel "Tödliche Eier" über den Salmonellenbefall der deutschen Frühstückskost war einer der bestverkauften Titel dieses Blattes.

Ich habe mich manchmal gefragt, warum wir in den vergangenen Jahren nicht Vergleichbares entdeckt haben - Phänomene, die die Gesellschaft wieder tief emotionalisieren. Liegt es an uns? Liegt es an einem abgeklärten Land, das wir so gern als "gelassen" bezeichnen? Oder daran, dass Bölsche nicht mehr Ressortleiter ist?

Bölsche war aber nicht nur ein genialischer Formulierer, ein großes Vorbild für uns jüngere, er hatte auch eine Faszination für die skurrilen Seiten des Lebens. Eine Kollegin bekam von ihm den Auftrag, über die magischen Kräfte des Mondes zu schreiben. Es entstand ein Titel, der unter der Zeile "Die Macht des Mondes" erschien und dessen erster Satz folgendermaßen lautete: "Der Vollmond geht auf, und der Bauer Bata musste ihn anheulen wie ein Tier.“ All das, lieber Herr Bölsche, werden wir vermissen - oder vermissen es bereits.

Aber Sie sind uns schon wieder vorneweg gelaufen. Sie leben heute in Osten an der Oste. Das ist ein kleines Nest an der Unterelbe, wo Sie hinter dem Deich ein denkmalgeschütztes Haus gekauft und wunderbar restauriert haben. Da haben sie im Netz ein Lokalportal aufgebaut, das seinesgleichen sucht. Sie sind bei facebook und twittern eifrig - obwohl die Zahl der Follower noch steigen könnte.

Ich habe mich an mein altes Vorbild erinnert und mir die Lokalzeitung vorgeknöpft und festgestellt: Sie sind in Osten natürlich schon ein Thema. Und zwar nur positiv: Sie sind Mitglied der Schützengilde, tragen die Ehrennadel des Angelvereins, haben den ersten Ostener Fährmarkt angeschoben, das Literaturprojekt "Deutsche Krimi-Straße". Und Sie engagieren sich als Vizepräsident im Weltverband der Schwebefähren. Der Ehrenvorsitzende ist übrigens der spanische König Juan Carlos.


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