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"Buchstaben
über der Stadt"

Aus dem Grußwort von Jochen Bölsche (AK Kultur)
zur Literatur-Exkursion der AG Osteland im Mai 2006

Dass unsere heutige Exkursion zum Thema Literatur ausgerechnet in der einstigen Industriestadt Hemmoor beginnt, mag manchen verwundern, denn das offizielle Hemmoor selber weist merkwürdigerweise kaum darauf hin, welche literarischen Schätze die Stadt birgt.

Natürlich war mir Peter Rühmkorf ein Begriff, bevor ich als Zugereister an der Oste landete - aber dass er im heutigen Hemmoor aufgewachsen ist, darauf hat kein offizieller Hemmoorer hingewiesen, das habe ich erst erfahren durch einen Artikel seines Dichterkollegen Peter Schütt im Hamburger Abendblatt über die heimliche Literaturhauptstadt Hemmoor. In Otterndorf, nicht in Hemmoor ist Rühmkorf angemessen geehrt worden, mit dem Voß-Preis, anderswo hat man sein Werk mit dem Arno-Schmidt-Preis gewürdigt, mit dem Georg-Büchner-Preis und und und.

Alfred Vagts - der vergessene Sohn der Stadt

Und dass Hemmoor auch die Heimat des international renommierten großen Militärwissenschaftlers, Philanthropen und Heimatschriftstellers Alfred Vagts ist, nach dem anderswo längst eine Straße benannt wäre - das habe ich erst dem vorletzten Büchlein von Heiko van Dieken entnommen.


Boßdorf-Stube in Hemmoor

Ein anderes Beispiel: Hermann Boßdorf ist immerhin eine Stube im Museum nebenan gewidmet, doch seine Stücke werden, wie man im Internet lesen kann, heute eher in Dithmarschen aufgeführt als in Basbeck, wo sie entstanden sind.

Und wenn man dann noch feststellt, dass auf dem Gebiet der bildenden Kunst etwa das Werk von Frijo Müller-Belecke anderswo eher gewürdigt wird als hier, dann sagt man sich als Neubürger: Welche ein Reichtum! - und man wundert sich: Welch eine Kulturvergessenheit!


Peter Rühmkorf 1933 in Warstade

Das wohl traurigste Beispiel ist der Umgang mit Rühmkorf. Geboren in Dortmund als uneheliches Kind der Lehrerin und Schriftstellerin Elisabeth Rühmkorf, aufgewachsen aber in Warstade, kommt er immer wieder auf  das Land an der Oste zurück. Die Oste nennt er in seinem lyrischen Werk in einem Atemzug mit den mächtigsten Flüssen der Welt:

Früher, als wir die großen Ströme noch
mit eigenen Armen teilten,
Ob, Lena, Jenissei, Missouri,
Mississippi, Elbe, Oste,
und mit Gesang den Hang raufgezogen
und mit Gesang auch wieder herab...
Heute: drei Telefongespräche
und der Tag ist gelaufen...

Auch das Wahrzeichen des Ostelandes spielt eine Rolle. In einem seiner Tagebücher berichtet er über eine Nacht im Ostener Fährkrug und beklagt sich über das "Ächzen und Kreischen der graustählernen Schwebefähre - heimatlich ungemütlich und an die Grundfesten meiner niedersächsischen Neurosen rührend".


Ausschnitt aus dem "Lese-Bilderbuch"

Wie sehr Rühmkorf durch seine Kindheit und seine Jugendjahre an der Oste geprägt ist, zeigt sein großes "Lese-Bilderbuch" mit dem Titel "Wenn ich mal richtig ICH sag", in dem er auf mehr als 20 Seiten Fotos von Warstade, Schwarzenhütten, der Schwebefähre ausbreitet, dazu erste Schreibversuche zitiert, britische Flugblätter zeigt, die er als Schüler gesammelt hat, und Erinnerungen anführt an seine Abneigung gegenüber der HJ, an die Schulzeit im Stader Athenäum, an seine pubertäre Magersucht und vieles mehr. zu sehen ist dort übrigens auch ein Foto, das ihn mit dem Hemmoorer Ehrenbürgermeister Paul Neese zeigt.

Im Mai 1972 erinnert er sich (in seinem "Tabu II") an die Jahre an der Oste: "Goldene Jugendzeit, braune Nazizeit, hier geschliffen, dort gebadet und geschwommen, hier ein paar Höhen erklettert, dort mich in Kies- und Kreidegruben abgeseilt, um aus riesigen Gesteinsblöcken mittelmiozäne Helmschnecken, Purpurschnecken und Herzmuscheln herauszukeilen (...)"

Solche Erinnerungen - durchaus zwiespältige Erinnerungen - durchziehen sein gesamtes Werk. Rühmkorf hat die Jahre in Hemmoor also nie vergessen - doch Hemmoor scheint ihn vergessen zu haben. Es ist, als habe sich in dieser Stadt eine dicke Schicht Zementstaub über den literarischen Goldstaub gelegt, auf den wir mit dieser Exkursion hinweisen wollen.

Das Wort Literatur ist eng verwandt mit dem Wort Lettern. Die Ag Osteland hofft auf viele Mitstreiter, die dazu beitragen, dass die Buchstaben nicht länger unter der Stadt begraben sind. Der Titel der jüngsten CD der in  Hemmoor wurzelnden Erfolgsgruppe "Tomte" sollte in Hemmoor als Aufforderung zum Umdenken verstanden werden. Das Album trägt den Titel "Buchstaben über der Stadt".
 
 
 
 
 


Einige Hinweise zur Arbeit des AK Kultur der Arbeitsgemeinschaft Osteland

Die ehrenamtlich tätige, gemeinnützige AGO, noch nicht einmal zweieinhalb Jahre alt, versteht sich als Lobby für die gesamte Oste - den lange Zeit vergessenen und vernachlässigten Fluß - von Tostedt bis Balje und für dessen Einzugsgebiet, das mit 1700 qkm größer ist als Hamburg und Berlin zusammen.

Bekannt geworden ist die AG Osteland vor allem durch ein touristisches Großprojekt, die in Osten und Hemmoor konzipierte und vor fast genau zwei Jahren, am 26. Mai 2004,  eröffnete Deutsche Fährstraße Bremervörde - Kiel, mit deren Ausbau insbesondere unser AK Tourismus unter unserem Vorsitzender Gerald Tielebörger befaßt ist; die DZT führt die Ferienroute inzwischen unter den "Top 50" Angeboten  und macht weltweit Werbung für die German Ferries Route.

In der Öffentlichkeit weniger bekannt ist, dass es daneben - unter der Federführung meines Vorstandskollegen Johannes Schmidt - den sehr wichtigen AK Kommunales gibt (ein Fünftel  unserer inzwischen 120 Mitglieder sind Bürgermeister), sowie den AK Kultur/Natur, dessen Mitglieder sich um die Bewahrung der Naturschätze und des Kulturerbes an der Oste bemühen.

Um diese Schätze ins Bewußtsein zu rufen und zu erhalten, arbeiten wir uns zur Zeit an sechs Schwerpunkten:

1. die Gestaltung des alljährlichen "Tages der Oste" mit Verleihung des Osteland-Kulturpreises "Der goldene Hecht"  in sechs Kategorien, darunter der   Kategorie Literatur; dieser Preis ging 2005 an Elke Loewe aus Drochtersen-Hüll und 2006 an den plattdeutschen Autor Hans-Hinrich Kahrs aus Alfstedt.

2. Wir haben eine bescheidene kleine Schriftenreihe gestartet, die "Osteland-Texte", mit bislang 11 Titeln; einer der aktuellsten ist "Der Fluß der großen Dichter" von Renate Wendt.

3. Auf dem Gebiet der Denkmalpflege arbeitet unser Osteland-Arbeitskreis Deutsche Schwebefähren, dem u. a. vier Bürgermeister von vier Fährorten angehören und der die Nominierung der beiden letzten deutschen Schwebefähren - an der Oste und am NOK - für das Unesco-Weltkulturerbe betreibt.

4. Unsere jüngste Projektgruppe will auf eine im Osteland und in Kehdingen besonders stark vertretene Literaturgattung hinweisen, den Regionalkrimi - den modernen Heimatroman -, und versuchen, ihn unter der Marke "Krimiland Kehdingen - Oste" für die Tourismusförderung einzusetzen.

5. Wir veranstalten jährlich vier bis fünf Themenexkursionen mit dem Titel "Unbekannte Oste - Expeditionen in die Nachbarschaft" (Termine unter osteland.de).

6. Höhepunkt unserer bisherigen Arbeit waren zweifellos die gestern eröffnete Oste-Kunstausstellung und das gestern vorgestellte neue Oste-Buch unserer Mitglieder Elke Loewe und Wolf-Dietmar Stock.

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