Der Waxdick aus
der Hexenbucht

Naturschützer kämpfen für die Rückkehr
von Oste-Stör und Oste-Lachs

Von Jochen Bölsche


In Osten ist der Sommer 1909 ein Sommer der Hoffnung. Schwere Hammerschläge hallen von der Baustelle der Schwebefähre weit über das Kirchdorf und stärken bei den Ostenern die Erwartung, dass ihrem Handelsort ein neuer Aufschwung blüht. Doch tief drunten, in den bräunlich-trüben Wassermassen des Flusses, hat sich ein Drama vollzogen, das einen der wichtigsten Wirtschaftszweige des Dorfes kollabieren läßt: den Fang und die Verarbeitung des profitabelsten aller Flossenwesen in der Oste, des bizarren, urtümlich wirkenden Kaviarfischs Stör.

"De Stör springt, ji mööt los!" - mit diesem Ruf hat in Osten seit Menschengedenken jeden Frühsommer die Jagd auf den Riesenfisch begonnen, der bis zu drei Meter lang und sechs Zentner schwer werden kann. Wann immer die Flut aufläuft, werfen die Männer in ihren hölzernen Kähnen dann die riesigen Netze aus, um die 300 Quadratmeter groß, die sie im Winter geknüpft haben. Wenn plötzlich die Holzbojen, die "Pumper", am Netzrand zucken und wegtauchen, brüllt einer: "Doar is een" - und den Störfischern winkt satter Gewinn: Ein größeres Exemplar bringt bis zu 700 Mark, mehr als ein Stallochse und fast soviel wie ein Pferd.

Überall an der Elbe, an der Oste und auch an jenem Fluß, der nicht grundlos Stör heißt, ist der Fisch allein schon wegen seines Fleischs beliebt; auf dem Ostener Schützenfest wird er an Ort und Stelle geschlachtet und pfundweise als Delikatesse verhökert. Vor allem aber ist der Stör wegen seines Rogens begehrt: Aus einem einzigen weiblichen Tier lassen sich bis zu 30 Kilo der schwarzen Eier gewinnen, die sich, gesiebt und gesalzen, als "Hamburger Kaviar" teuer vermarkten lassen.

So gewaltige Schwärme ziehen von Mai bis Juli aus der Nordsee in die Laichgebiete in der Elbe und ihren Zuflüssen, dass allein das Hamburger Fischgeschäft Hagenbeck Mitte des 19. Jahrhunderts allsommerlich um die 5000 Störe verarbeitet. Aus der Oste werden beispielsweise zwischen Rönndeich und Achthöfen, unmittelbar ober- und unterhalb von Osten, jedes Jahr 80 bis 100 der im Volksmund so genannten "friedlichen Wale" gezogen - bis der Bestand bald nach der Jahrhundertwende völlig zusammenbricht, ein klassischer Fall von Überfischung.

Zunehmender Schiffsverkehr und Umweltverschmutzung, Wasserverbauung und Zerstörung von Laichplätzen - das alles trägt bei zum Niedergang der Bestände. Doch den Todesstoß versetzt dem Elbstör ausgerechnet die Unvernunft der Fischer, die von ihm leben: Als ihnen immer weniger und immer kleinere Exemplare ins Netz gehen, drängen sie wiederholt, jedesmal mit Erfolg, auf kürzere Schonzeiten. Damit aber beschleunigen sie noch das Ausrottungstempo.

Wie die Heimatforscherin Gisela Tiedemann herausfindet, Autorin der bislang umfassensten Dokumentation des Phänomens, geben von 1904 an immer mehr Fischer  ihren Beruf auf. Im Jahre 1911, so Tiedemann, ist die "erwerbsmäßige Berufsfischerei so gut wie am Ende" und der Großfisch einer "erbarmungslosen Jagd" zum Opfer gefallen.

Verschschwunden ist mit dem Oste-Stör nicht nur ein Wirtschaftsfaktor, sondern auch ein Wunder der Evolution. Denn der Fisch, dessen Haut eine eigentümliche Rüstung aus Knochenplatten schützt, ist ein lebendes Fossil; er entstammt einer Gruppe primitiver Fische, die 300 Millionen Jahre alt ist - älter als die Dinosaurier.

Etwa um die Zeit, als die Schwebefähre ihr Fünfzigjähriges feiert, ereilt das Schicksal des Störs auch das zweite wichtige und wertvolle Flossentier, das die Menschen an Elbe und Oste jahrtausendelang ernährt hat: den silbrig glänzenden Lachs, den König der Fische.

Wie der Stör ist der Lachs ein Wanderfisch, der auf intakte Überwinterungszonen im Salzwasser der Meere ebenso angewiesen ist wie auf unverbaute Aufstiegswege und ungestörte Laichgründe in sauberem Süßwasser. Doch diese Bedingungen sind in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts nicht mehr gegeben - Folge eines, so der Verband Deutscher Sportfischer (VDSF), "heute unfassbaren Wahnsinns im Umgang mit der Umwelt". Damals enthielten, wie der Anglerbund schreibt, "viele unserer Flüsse mehr Chemie- und Kloaken-Cocktail als Wasser".

Aus immer mehr Flußregionen wird in den Sechzigern und Siebzigern die Ausrottung des edelsten aller Edelfische gemeldet. Im Jahre 1980 veröffentlichen prominente Tierfreunde um den TV-Naturschützer Horst Stern ein Requiem für den Lachs: "Für Abwasserkanäle ist er nicht geschaffen." Der Nachruf endet mit der Frage: "Wird er je wiederkommen können?"

Er kann. Um die Jahrtausendwende hat sich in dem Fluß mit der Schwebefähre vollzogen, was als "das Wunder an der Oste" (Der Spiegel) in die Ökologiegeschichte eingeht: Der Lachs (Salmo salar) kehrt zurück in die Oste, die nun laut Fachpresse "Deutschlands Lachsfluß Nummer eins" ist und, so der VDSF, bundesweit als "Paradegewässer für die Wiedereinbürgerung von Großsalmoniden" gilt.

Dass es dazu kommen konnte, liegt nicht nur am verstärkten Kläranlagenbau, an der Industrieferne des Ostelandes und am weithin noch naturnahen Flußlauf. Denn das alles sind zwar notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen für eine dauerhafte Wiederansiedlung des Lachses.

Wer einen neuen Bestand aufbauen will, der sich selber verjüngt, muss den faszinierenden Lebenszyklus des eigenwilligen Lachses kennen: Der "Langdistanzwanderfisch" schlüpft zumeist in Seitenbächen des Oberlaufs, wächst langsam heran, wagt sich in immer tiefere Gewässer und wandert im Alter von etwa drei Jahren ins Meer bei Island und Grönland ab. Zwei Jahre später kommen die geschlechtsreifen Lachse zum Laichen zurück ins Süßwasser - und zwar wunderbererweise an jene Stelle, auf zehn Meter genau, an der sie selber einst geschlüpft sind.

Die logische Konsequenz beschreibt der Ostener Wolfgang Schütz, Vorsitzender der "Ostepachtgemeinschaft" von über zwanzig Angelvereinen am Unterlauf, mit dem Lehrsatz: "Ist der Lachs erst einmal in einem Fluss ausgestorben, so bildet sich niemals alleine eine neue Population, auch wenn die Wassergüte noch so gut ist."

Dass folglich Naturfreunde der Natur nachhelfen müssen, indem sie geeignete Lachsbrut an die einstigen Lachsflüsse schaffen - diese Einsicht erschließt sich ein paar sturmfesten Niedersachsen, darunter zwei Handwerker von der Oste, der Zevener Elektroniker Ernst Peters und der Lamstedter Betonbaumeister Egon Boschen. Sie sind bereits in den achtziger Jahren besessen von der fixen Idee, dass es möglich sein müsse, den verschollenen Fischkönig zurückzuholen in sein altes Reich zwischen Tostedt und Neuhaus.

Sie beginnen mit einer Reihe von Idealisten aus den Angelvereinen an der Oste, die Zuflüsse mit Import-Lachsbrut zu impfen. Sorgsam überwachen sie ihre Brutanlagen in Zeven, Sittensen und Lamstedt, sortieren Schimmeleier aus, markieren Jungtiere und massieren Männchen den schuppigen Leib, bis die so genannten Milchner ihr Sperma ejakulieren. Prompt werden die Artenschutzpioniere von Ignoranten verhöhnt: Sie seien "brägenklöterig", heißt es, Plattdeutsch für bescheuert.

Beharrlich experimentieren die Sportfischer auch mit norwegischer und irischer Lachsbrut. Mit Gleichgesinnten, die bald ihrerseits andere Bäche etwa im Einzugsbereich von Rhein und Elbe mit Lachsbrut oder Lachsbabys besetzen, tauschen sie sich aus über Laichhabitate und Brutkästen, Fischseuchen und Fischwanderzeiten ­ und schließlich über erste Erfolge.

Nach zwei Jahrzehnten Mühe ist es soweit: Auf einer Tagung im schleswig-holsteinischen Warder jubeln Experten, in der Oste sei nunmehr eine "sich selbst reproduzierende Population des Lachses" ansässig ­ Deutschland hat wieder zumindest einen richtigen Lachsfluss.

Zunehmend suchen fortan Rückkehrer aus dem Atlantik, gesteuert durch ihren Heimkehrdrang, instinktsicher den Schwebefähren-Fluß auf, um sich in dessen Zuflüssen zu paaren. Alljährlich sind laut OPG in der Oste schätzungsweise 600 heimkehrende Lachse auf Achse. Die sogenannten "Laichväter" nutzen deren Einer statt der Importware, um weitere Jungfische zu erbrüten.

Im Frühjahr 2005 meldet OPG-Vorsitzender Schütz: "Die Zahl der durch Elektrofischen gefangenen Lachse steigt stetig an und damit natürlich auch die Zahl der erbrüteten Eier. So können jetzt jährlich bis zu 70.000 Lachs-Brütlinge aus eigener Zucht in die Oste gesetzt werden" - der unterbrochene Kreislauf des Lebens ist wieder in Gang gekommen.

Im "Jahr der Oste 2009" träumen die Artenschützer davon, an ihrem Fluß noch ein zweites Wunder bewirken zu können: den Kehrwieder des knorpeligen Kaviarfischs.

Zwar hält sich in den Kneipen am Fluß hartnäckig das Gerücht, der streng geschützte Stör sei nie völlig ausgerottet worden; es habe in der Oste stets einen Restbestand gegeben, über den ortskundige Petrijünger jedoch wohlweislich geschwiegen hätten. Pures Anglerlatein?

Wenn Sportfischer tatsächlich mal - wie 2001 in Hemmoor oder 2007 in Brobergen - ein Exemplar einer Stör-Art am Haken haben, stellt sich in der Regel heraus, dass es sich, so die Arbeitsgemeinschaft (Arge) Elbe, um nicht heimische "Fremdarten" handelt. Es sei davon auszugehen, dass diese Tiere aus Störzuchtanlagen entwichen oder von Hobbyisten ausgesetzt worden seien - nichts deute auf einen unbekannt gebliebenen heimischen Störbestand, der sich in der Oste selbst verjüngt wie einst vor über hundert Jahren..

Für den Beweis des Gegenteils taugt auch ein Fang nicht, den namentlich unbekannt gebliebene Angler Ende der 90er Jahre in der Hexenbucht bei Ahrensflucht (Gemeinde Oberndorf) machen. Sie überlassen den Fischkopf dem Ostener Hotelier Horst Ahlf, dem sie dazu eine Geschichte erzählen: Sie seien beim Aalangeln nach ein paar Flaschen Bier eingenickt. Als sie aufwachten, sei "der Knüppel krumm" gewesen - und in der Angelschnur hatte sich, so die Darstellung, ein 30 bis 40 Pfund schwerer, etwa 1,20 Meter langer Fisch verwickelt.

Ahlf bewahrt den Fischkopf - möglicher Beweis für eine heimliche Fortexistenz der Oste-Störe - jahrelang in seinem Kühlraum auf, um ihn schließlich dem Deutschen Meeresmuseum in Stralsund zu überlassen. Dort identifizierten Experten den Fang als einen so genannten Waxdick. Die Art, die auch als Russischer Stör bezeichnet wird, besiedelt das Schwarze Meer und das Kaspische Meer sowie deren Zuflüsse.

Wie der "Russe" in die Hexenbucht kam - darüber darf gerätselt werden. Fest steht, dass der Waxdick in Deutschland als beliebter Hobbyfisch gilt. Mit Zier-Stören wird auch im Internet gehandelt. "Wegen seiner außergewöhnlichen Erscheinung und seines wenig ausgeprägten Fluchtreflexes wird der Stör heute zunehmend mehr in Teichanlagen eingesetzt," heisst es auf der Website eines Händlers.

Und weiter: Weil die nachgezüchteten Russischen Störe "schnell zahm" würden und "sogar aus der Hand" fressen, seien sie "heute eine der begehrtesten Störarten auch in Teichanlagen". Der "private Boom der Störe als Teichfische" habe dazu geführt, dass der Waxdick auch in Deutschland in Fischzuchten vermehrt wird, "wobei aufgrund seiner auffälligen schwarzweißen Färbung ein großer Teil der Brütlinge im Zierfischhandel landet".

Irgendwann ist ein Waxdick - er wird bis zu 2,40 Meter lang - allerdings zu groß für den Gartenteich. Dann wird unter anderem im Internet, wo der Handel mit Second-hand-Stören floriert, nach Abnehmern gesucht. Nicht auszuschließen ist, dass ein sogenannter Russenstör (Acipenser gueldenstaedti), auch mal in einem Gewässersystem landet, in dem er eines Tages als Zufallsfund Aufsehen erregt.

Um hingegen den traditionellen Ostefisch, den Europäischen Stör (Acipenser sturio), im Elbe-Weser-Dreieck wieder heimisch zu machen, ist mehr vonnöten, als einen Fisch ins Wasser zu werfen.

Zum einen ähnliche  Besatzaktionen wie beim Lachs erforderlich. Laich der heute sehr bedrohten Art Acipenser sturio kann jedoch nur ein letzter noch existierender kleiner Bestand in der französischen Gironde liefern. Weil diese Störe aber erst mit acht bis zehn Jahren geschlechtsreif sind, gestaltet sich die Nachzucht extrem langwierig.

Neben geeigneten Brütlingen würde eine dauerhafte Wiederansiedlung des höchst sensiblen Störs aber auch eine umfassende Renaturierung der Oste und ihrer Nebenbäche voraussetzen, von der Schaffung komfortabler Laichgründe über die Anlage von Gewässerschutzstreifen bis hin zur Beseitigung von Wehren und anderen Querverbauungen überall im Einzugsgebiet der Oste, das mit 1400 Quadratkilometern so groß ist wie Hamburg und Berlin zusammen.

Die Sportfischer rund um die Schwebefähre zeigen sich im Ostejahr 2009 so optimistisch wie einst auch in Sachen Lachs. Nachdem mit Unterstützung auch der Ostepachtgemeinschaft zuvor bereits in der Oder Jungstöre ausgesetzt worden waren, wurde am 4. September 2008 erstmals eine experimentelle Wiederansiedlung von Stören im deutschen Nordsee-Einzugsgebiet versucht, in der Nähe der brandenburgischen Elbgemeinde Lenzen.

Hundert Jahre nach der Ausrottung des Störs drückten daraufhin die Sportfischer von der Oste auf ihrer Website www.sfv.oste.de die Hoffnung aus, dass "unsere Kinder Störe nicht nur als ausgestopfte Exemplare aus den Museen kennen, sondern sie in einigen Jahren wieder in unseren Flüssen und Meeren beobachten können".

Sicher ist allerdings: Auch wenn die Ansiedlung zu ersten Erfolgen führt - bis es auf dem Ostener Schützenfesten wieder heimisches Störfleisch gibt, wird noch unendlich viel Wasser unter Deutschlands ältester Schwebefähre hindurchfließen.



Leseprobe aus dem Buch "Über die Oste - Geschichten
aus 100 Jahren Schwebefähre Osten Hemmoor"

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