2009 erschienen: Chronik der Schwebefähre

Zwischen Luftballon
und Eisenbahn

Das kleine Dorf Osten wagt
sich an ein Projekt, das
Hamburg verworfen hat

Von JOCHEN BÖLSCHE


 
Die eine Baustelle liegt gleich gegenüber vom weltberühmten Amüsierviertel St. Pauli, die andere 55 Kilometer Luftlinie entfernt tief in der hannöverschen Provinz. Fast gleichzeitig beginnen im Hochsommer des Jahres 1907 in der Metropole Hamburg und im Dörfchen Osten die Arbeiten an zwei Bauprojekten, die beide demselben Zwecke dienen und die beide als Pionierleistungen in die deutsche Technikgeschichte eingehen werden.

Am 22. Juli 1907 unternehmen Arbeiter der Baufirma Philipp Holzmann im neuen Hamburger Hafenstadtteil Steinwerder die ersten Spatenstiche für die Untertunnelung des Elbstroms. Dieses Bauwerk wird hundert Jahre später als "Alter Elbtunnel" bezeichnet werden - und als "vermutlich einmalig in der Welt" ("Frankfurter Allgemeine Zeitung").

Wenig später, am 1. August 1907, bewilligt in Osten der Gemeindeausschuß mit einer Gegenstimme die Ausgabe von 50 Mark für Bohrungen zum Bau der ersten deutschen Schwebefähre - eine im Kaiserreich noch nie zuvor erprobte Form der Gewässerquerung, die hundert Jahre darauf als Baudenkmal von nationaler Bedeutung gefeiert werden soll.

Ob Osten an der Oste, ob Hamburg an der Elbe Auen - beide Orte stehen seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts vor dem gleichen Problem: Um ihre wirtschaftliche Zukunft nicht zu gefährden, müssen sie den von der Tide regierten, stark befahrenen Strom vor ihrer Tür überbrücken. Denn die Fähren, die bis dahin die Oste und die Elbe überquert haben, sind hier wie dort ihrer Aufgabe nicht mehr gewachsen. Immer wieder müssen sie den Verkehr wegen Eisgang, Nebel oder extremer Wasserstände einstellen. 

Der Handels- und Gerichtsort Osten ist daher oft tagelang abgeschnitten von der jenseits des Flusses verlaufenden neuen Lebensader des Elbe-Weser-Dreiecks, der 1881 eröffneten Eisenbahnlinie Harburg - Cuxhaven. Für Deutschlands größte Hafenstadt wiederum ist eine zuverlässige Verbindung zu den neu entstandenen Kaianlagen, Werften und Fabriken am Südufer der Elbe überlebenswichtig.

Wegen des starken Schiffsverkehrs aber verbietet sich eine konventionelle starre Brücke, die im tidebewegten Hamburger Hafen eine lichte Durchfahrtshöhe von rund 50 Metern (und entsprechend gewaltige Rampen) erfordern würde, weil sie nicht die ozeangängigen Segelschiffe mit ihren himmelhohen Masten behindern darf. Auch Dreh-, Hub- und Klappbrücken scheiden teils aus Kostengründen, teils wegen ihrer Langsamkeit aus.

Eine mögliche Lösung bietet 1894 der Kölner Industrielle Eugen Langen dem Hamburger Senat an. Der Erfinder der später in Wuppertal verwirklichten Schwebebahn bietet der Hansestadt nicht nur den Bau einer Hängebahn zur Behebung der innerstädtischen Verkehrsnöte an, sondern auch die  Überbrückung der Elbe per Schwebefähre.

Aufgehängt an einer 45 Meter hohen Brückenbahn sollen zwei Gondeln gleichzeitig zwischen den Landungsbrücken und dem Südufer pendeln und in Stoßzeiten 6000 Personen pro Stunde übersetzen. Zusätzlich sieht Langen in den Brückenpfeilern Aufzüge für Fußgänger vor. Sein Vorschlag, in vielen Gremien heftig diskutiert, wird abgelehnt; er wirkt auf die Stadtpolitiker wenig ausgereift.

In Hamburg gescheitert, überträgt Langen seine Patente 1895 einer in Nürnberg gegründeten "Continentalen Gesellschaft für electrische Unternehmungen", die seine Pläne überarbeitet und bald ihrerseits an Hamburg herantritt. Doch der Senat verwirft 1904 nach leidenschaftlichen Debatten die Idee einer Schwebebahn à la Langen und entscheidet sich - im selben Jahr wie New York - für eine Hoch- und Untergrundbahn, wie sie zuvor schon London (1890), Budapest (1896), Paris (1900), Boston (1901) und Berlin (1902) in Angriff genommen haben.

Auch das drängende Problem der Elbquerung will der Senat nun ganz anders lösen als 1894 von Langen vorgeschlagen: nicht mit einer Schwebefähre, sondern mit einem Tunnel samt zwei Aufzügen, vom dem sich die Experten eine größere Transportkapazität erhoffen und für den die Stadt 1906 knapp elf Millionen Mark bewilligt.

Am Elbnebenfluß Oste, wo lange auch über eine Drehbrücke diskutiert worden war, ist unterdessen die Entscheidung für eine Schwebefähre gefallen: Osten verwirklicht, was Langen entworfen und Hamburg verworfen hat. Offiziell heißt die projektierte Ostener Fährbrücke fortan "Schwebebahn" - so wie die lediglich im Tal der Wupper verwirklichte Erfindung Eugen Langens.

Daß die hannöverschen Regierungsvertreter 1905 - anders der Hamburger Senat elf Jahre zuvor - den Bau einer Schwebefähre akzeptieren, hat einen nachvollziehbaren Grund: Was den Hanseaten noch wenig ausgereift erschien, hat sich binnen zehn Jahren zu einem international bewährten Verkehrsmittel entwickelt.

Als Hamburg 1894 Langens Schwebefähren-Vorschlag ablehnte, existierte weltweit erst eine einzige Flußquerung dieser Art. Im Juli 1893 war im spanischen Portugalete bei Bilbao die 162 Meter lange Schwebefähre über dem Fluß Nervion ihrer Bestimmung übergeben worden. Entworfen hatte das Bauwerk der spanische Architekt Alberto de Palacio Elissague. Für die Realisierung gewinnt er den französischen Ingenieur und Bauunternehmer Ferdinand Arnodin, einen Freund des Eiffelturm-Erbauers Gustave Eiffel.

Nach der erfolgreich bestandenen Bewährungsprobe in Bilbao geht es Schlag auf Schlag. Arnodin kauft Palacio die Patentrechte ab und baut Schwebefähre um Schwebefähre. In seiner Fabrik in Chateauneuf an der Loire entstehen spezielle wetterfeste Spiralkabel und vorfabrizierte Komponenten für Fährbrücken über der Hafeneinfahrt im französischen Kriegshafen in Bizerta/Tunesien (erbaut 1898, später nach Brest verpflanzt), in Rouen (1899), Rochefort (1900), Nantes (1903), Marseille (1905) und im südwalisischen Newport (1906). Und auch eine aus Kriegsgründen nie fertiggestellte Schwebefähre in Bordeaux (Baubeginn 1910) ist von Arnodin inspiriert.

Schon im Jahr 1900 ist der Mann, dessen Name mit nahezu der Hälfte aller je gebauten Schwebefähren verbunden sein wird, ein gefeierter Star auf der Pariser Weltausstellung. 

Tief beeindruckt von einem Gespräch mit Arnodin und von Probefahrten mit dessen Schwebefähren zeigt sich der deutsche Regierungsbaumeister Carl Bernhard. In einem sechsseitigen, üppig bebilderten Artikel in der "Zeitschrift des Vereins deutscher Ingenieure" schwärmt der Charlottenburger Privatdozent 1901 von der "ruhigen, schwebenden Fahrt, die Arnodin treffend als zwischen Luftballon und Eisenbahn liegend beschreibt", und kommt zu dem Schluß, daß nunmehr "diese Brückenart als erprobt angesehen werden kann".

In den Fußstapfen Arnodins bewegen sich mithin die Konstrukteure im MAN-Werk Gustavsburg, die 1909 die Ostener Schwebefähre fertigstellen, wie auch deren Kollegen von der Gutehoffnungshütte: Die Oberhausener überbrücken ein Jahr später nach den Plänen des Marine-Hafendirektors Georg Ludwig Franzius die Zufahrt zum Hafen der Kaiserlichen Werft zu Kiel mit einem ähnlichen Bauwerk.

Als 1923 das Kieler Werfthafenbecken zugeschüttet und die Franzius-Fährbrücke abgerissen wird, bleibt den Deutschen nur mehr eine einzige originäre Schwebefähre: die über der Oste. 

Denn die 1913 in Betrieb gegangene Schwebefähre über den seinerzeitigen Kaiser-Wilhelm-Kanal ist lediglich ein nachträglich angefügtes Anhängsel der gigantischen Eisenbahn-Hochbrücke zwischen Rendsburg und Osterrönfeld, des damals größten Stahlbauwerks Europas. (Auf ähnliche Weise hängten die Holländer 1938 in Maarssen eine Schwebeplattform unter eine bestehende Straßenbrücke über dem Amsterdam-Rhein-Kanal, um Ackerwagen die steile Brückenrampe zu ersparen.)

Tätig sind Ingenieure der Gutehoffnungshütte auch in Südamerika, wo 1914/15 Schwebefähren in Buenos Aires und in Rio de Janeiro entstehen. Die einzige  "transporter bridge" Nordamerikas in Duluth/Minnesota, Baujahr 1905, wird 
zwanzig Jahre später in eine Hubbrücke umgewandelt.

Anderswo verschwinden oder vergammeln nach und nach die Wunderwerke aus der Kutschenzeit, die dem stark anwachsenden Autoverkehr nicht mehr gewachsen sind. Weil zudem flache Motorschiffe die hochmastigen Windjammer verdrängt haben, werden die langbeinigen Fährgerüste vielerorts durch Spannbetonbrücken abgelöst. Kriegseinwirkungen und hohe Schrottpreise führen dazu, daß mehr ein Dutzend Schwebefähren zerstört oder abgebrochen werden - so 1935 im brasilianischen Rio, 1940 in Rouen, 1944 in Marseille, 1947 in Brest, 1958 in Nantes, 1959 in Maarssen, 1961 im britischen Widnes. 

Erhalten geblieben sind nur noch acht der Exemplare von einst: die vor sich hin rostenden Schwebefähren über den verseuchten Wassern des Riachuelo in Buenos Aires und auf einem abgesperrten Chemiefabrikgelände im mittelenglischen Warrington, aber auch betriebsbereite Bauwerke im walisischen Newport, im nordenglischen Middlesbrough, im französischen Rochefort und im spanischen Bilbao sowie die beiden letzten deutschen Schwebefähren.

In Betrieb ist auch noch immer, fast hundert Jahre nach seiner Einweihung 1911, der alte Hamburger Elbtunnel - auch er, wie die Schwebefähren, ein Kind des versunkenen Zeitalters der Kutschen und der Windjammer. 

Die Faszination, die sie nach wie vor ausüben, sieht der Aachener Technik-Professor Mirko Baum darin begründet, daß jedes der erhalten gebliebenen Relikte "von der Jugendzeit der Technik erzählt, von einer Zeit der großen Experimente, in der die kindliche Naivität mit der heroischen Großtat noch Hand in Hand ging".  

www.oste.de

www.schwebefaehre.org


 
 


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