Hamburger Abendblatt vom  26.08.2010

Hier sind die Morde zu Hause

An der "Deutschen Krimistraße": Zwischen Elbe und Oste erblüht die kriminelle Fantasie zahlreicher Autoren

Stefanie Maeck

Unheimlich ist es hier in der Nacht. Die Scheinwerfer huschen über den sich windenden schmalen Weg, im Rückspiegel bleibt es zappenduster. Durch die Buchen, die den Rönndeich säumen, blitzt ab und zu der Vollmond hindurch, etwas scheint sich in der Baumkrone zu bewegen. Niemandsland am Deich, verwunschen und vergessen. In diese moorige Gegend passen Sagen wie die vom Erlkönig. Bei Licht betrachtet ist der 2,3 Kilometer lange Rönndeich in Drochtersen-Hüll nahe der Samtgemeinde Hemmoor eine normale Straße. Schmal, asphaltiert und ruhig. Doch sie ist zugleich ein mysteriöser Tatort, den die Leichen pflastern. Wer es genau wissen will, findet im Netz eine Seite, die 18 Tatorte zwischen Neuhaus, Hemmoor und Wischhafen listet, begleitet von einem neckischen Muhen und einem Schuss. Es sind literarische Tatorte, der mörderischen Fantasie entsprungen. Warum sich ausgerechnet an diesem idyllischen Fleckchen Erde im Kehdinger Land die schreibenden Regionalkriminalisten angesiedelt haben, weiß keiner.

Als "Deutsche Krimistraße" versucht man diesem touristischen Glücksfall für die Region zu bewerben. Der Drehbuchautor Volker Vogeler lebte hier. Unzählige seiner Folgen für "Der Alte", "Tatort" und "Derrick" entstanden in dieser kargen Gegend. Inzwischen werben Makler mit der interessanten Nachbarschaft der Krimistraße oder Autoren wie Elke Loewe, die hier auf dem Hof einer Apfelmosterei ihre Geschichten von Giftmischern zusammenbraut.

Gerade bekommen einige Reetdachhäuser am Rönndeich eine frische Ladung Reet, die Wäscheleinen wehen vor den Häuschen, zwei Hannoveranerpferde stehen auf leuchtendem Grün und ein Mäusebussard stürzt sich in den Futtermais. Die Gans im Schilf sieht unecht aus, aber immerhin: Ihr Kopf wackelt. Beim Abfahren des Rönndeichs treffen wir auf eine blonde Frau. Später, als wir die andere Richtung mit den Hausnummern 9 bis 29 abfahren, wo einige Kriminalisten wohnen, scheint sie uns erneut entgegenzukommen. Ein Spuk?

Wenn die knochigen Obstbäume ihre Gespensterärmchen gruselig und windschief in den grauen Dunst recken, das Auge endlos weit über die Tiefebene schaut und die dichten Nebel klamm vom Boden hoch um die wenigen Häuser kriechen, ist der Rönndeich ein einsamer Ort. Etwas für Hartgesottene, die mit Alkohol ihre Schwermut kurieren - oder für Großstädter, die sich in ihrer Eremitage über die Laptops und Ipads beugen.

Über eines herrscht Einigkeit: Die Melancholie kriecht aus den feuchten schnurgeraden Bewässerungsgräben des Kehdinger Landes hinter Stade und befeuert das Fließen schwarzsämiger Krimi-Stoffe. Ein zweites schwedisches Ystad oder gar ein Krimiparadies wie das verschlafene US-Nest Maine? In den Moorkaten, spitzen Fachwerkhäusern und schiefen Häusern zwischen der Rönne, einem Nebenfluss der Oste, schreiben Autoren wie Elke Loewe (Rosenbowle), der Stern-Journalist Jürgen Petschull (Der Herbst der Amateure), der Rechtsanwalt Wilfried Eggers (Ziegelbrand), im weiteren Umkreis arbeitet der Aschhorner Biobauer Thomas B. Morgenstern (Der Milchkontrolleur), in Stade gibt es den Denkmalpfleger Dietrich Alsdorf (Anna aus Blumenthal, Abels Blut) und die Psychologin Anke Cibach nebst einigen "Wochenendlern" aus der großen Welt der Journaille (darunter bekannte Blattmacher).

Geschrieben wird über den düsteren Bodensatz der menschlichen Natur, gruseliges Zeug, Geschichten von Mord und Totschlag. Geschickt garniert wird das Ganze mit viel Lokalkolorit und Details aus der Region. Leser mögen das, was nicht zuletzt die regionalen Krimis im Fernsehen beweisen. Je nach Temperament und Fingerspitzengefühl sind die realen Schauplätze und Ortsnamen mehr oder weniger verfremdet (der Rechtsanwalt Wilfried Eggers aus Drochtersen ist berufsbedingt besonders vorsichtig).

Mal erkennt man ein Gasthaus, mal einen Konflikt, so dass Krimifans schon mal übers platte Land rollen, um die Tatorte zu dechiffrieren und die spröden, wortkargen Protagonisten im Friesennerz zu begutachten. Der Krimiland Arbeitskreis der AG Osteland rief einen Kurzkrimiwettbewerb ins Leben, bei dem drei Damen vergangenes Jahr die Nase vorn hatten und jährlich lockt die "Kehdinger Kriminacht".

Direkt am Rönndeich kann der Tourist in unmittelbarer Nähe seiner Autoren im Ferienhaus Nr. 28 ausspannen und sich in der hauseigenen Bibliothek mit Krimis versorgen, um dann auf dem Fahrrad zur nahen Tatortssuche in Osten, Hemmoor oder Himmelpforten über idyllische Fahrradwege zu rollern. Die Moorhexe wird ihn in Ruhe lassen. Gäste aus Thüringen notierten im Gästebuch: "Wir lernten die fabelhafte Krimiautorin Elke Loewe kennen, die uns so manch regnerischen Tag versüßte. Wir sind begeistert von dieser geheimnisvollen Krimilandschaft, von den wallenden Nebeln und den Deichen."

Die Region freut sich ob des Krimitourismus, der mit Lesungen, Krimiexkursionen zu fiktiven Tatorten, Schifffahrten ("Mord an Bord zum Abendbrot") und Sonderaktionen befeuert wird. "Jeder Ort ein Tatort" wirbt die AG Osteland unter dem Stichwort "Krimiland Kehdingen Oste - Morde zwischen Moor und Meer".

Zum eigenen Bedauern ist man noch nicht so weit wie die Initiative "Krimiland Eifel". Doch die Parole macht Mut: "Nirgendwo in Deutschland sind mehr Krimis und Krimi-Drehbücher geschrieben worden als hier." Viele davon sind in dem kleinen Verlag Medien Contor Elbe mit Sitz in Drochtersen verlegt.

Angeblich soll die Selbstmordrate im feucht-nebligen Elbe-Weser-Dreieck immer schon höher gelegen haben, da ist Schreiben eine gesündere Variante der Sublimierung. "Durch den Strick gucken, nannte man es hier, Selbstmord war zumal für Männer, die sich in eine wirtschaftlich aussichtslose Lage manövriert hatten, ein gesellschaftlich akzeptierter Abgang", schreibt Stern-Edelfeder Wolfgang Röhl.

In einer Bauernhauskate unter Reet hat er nach Verlagsinformation Quartier bezogen. Sein Erstling "Im Norden stürmische Winde" ist durchweg zu empfehlen und zeigt Röhl als Zyniker, der scharf wie eine Rasierklinge beobachtet und eben so schneidend schreibt, so dass der Leser mehr will - ein "Pageturner". Der Spannungsbogen rund um einen in Söderfleth geplanten Windpark ist zwar überschaubar, doch wird kriminalistische Unerfahrenheit durch schreiberisches Talent und Humor kompensiert. Ähnlichkeiten zu realen Konflikten sind erwünscht. Röhls Nachfolgeroman heißt "Inselkoller" und spielt auf der fiktiven Nordseeinsel Diekerum.

Auch der Biobauer Thomas B. Morgenstern hat nach dem "Milchkontrolleur" ein neues Werk vorgelegt. Bei ihm ermittelt auch in "Der Aufhörer" sein phlegmatisch-sturer Milchkontrolleur Hans-Georg Allmers, begleitet von seinem ungeliebten Bruder Werner, dem Staatsanwalt aus Stade.

Dietrich Alsdorf wiederum versucht sich an historischen Stoffen und verlegt nach "Anna aus Blumenthal" den Plot von "Abels Blut" wieder ins schaurige Kehdinger Moor.
 


Siehe auch:

http://www.tourismusverband-stade.de/kunst-kultur/krimiland-kehdingen-oste/print.html
 

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