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Der König und die
Knochenmühle

Alsdorf vor dem leeren Grab (Frühjahr 2007)

In staubigen Archiven, aber auch mit Spaten und Metallsonde hat der Archäologe Dietrich Alsdorf für einen Historienkrimi à la �Tannöd� und �Kalteis� recherchiert. Thema: ein 1833 begangener spektakulärer Vater- und Gattenmord und dessen blutige Ahndung nach einem grausigen mittelalterlichen Ritual.

Den Jahreswechsel 1833/34 verbringt die 25-jährige Bäuerin Anna Sophie Meyer unweit der Niederelbe im feuchten, düsteren Kerker eines Dorfes mit dem schönen Namen Himmelpforten � und erleidet Höllenqualen.

Am 3. Dezember hat ein Justizassessor ihr und ihrem nebenan einsitzenden Stiefsohn und Geliebten Claus Meyer, 23, die Anklage eröffnet: Beide seien des gemeinsam begangenen Mordes an ihrem Ehemann und seinem Vater Cord Meyer, 56, überführt, verbunden mit �blutschänderischem Ehebruch�.

�Rohe Sinneslust�, glaubt sogar die Pflichtverteidigung, habe das Liebespaar bewogen, den Verwandtenmord, diese �schwärzeste der Missetaten�,  zu begehen. Darauf steht auch im Königreich Hannover laut der überkommenem �Peinlichen Gerichtsordnung�, der nach Karl V. benannten �Carolina�, eine der fürchterlichsten Strafen, die Menschen je ersonnen haben: das so genannte Rädern.

Dem Mörder werden
alle Knochen gebrochen


König Wilhelm IV. regiert Hannover

Als der Himmelpforter Ankläger dafür plädiert, das mörderische Paar �mit dem Rade vom Leben zum Tode zu richten�, ist den Zeitgenossen klar, welche Marter Claus und Anna droht:

Der Scharfrichter legt den entkleideten, gefesselten Delinquenten auf ein paar Kanthölzer und bricht ihm mit einem Wagenrad oder, wie im Hannöverschen üblich, mit eisernen Keulen sämtliche Knochen � entweder, beim �Rädern von unten�, an Füßen und Beinen beginnend, oder aber, beim �Rädern von oben�, vom Schädel an abwärts; diese Variante gilt als Gnadenerweis, weil meist schon der Hieb aufs Haupt den Tod zur Folge hat. Am Ende wird der malträtierte Körper auf das Speichenrad geflochten und auf einem hohen Pfahl den Vögeln zum Fraß überlassen.

Die Umstände der Mordtat von 1833 � eines der spektakulärsten Verbrechen jener Zeit � und deren nicht minder grausige Ahndung bewegen derzeit, 175 Jahre darauf, erneut die Menschen rund um den einstigen Tatort, das Dorf Blumenthal bei Himmelpforten im niedersächsischen Landkreis Stade.

Ein leeres Grab
neben der Richtstätte


Ein Findling markiert heute die Richtstätte

Denn der dort wirkende Archäologe Dietrich Alsdorf, 54, hat bislang unbekannte Details über den Fall herausgefunden. Dazu hat der silberhaarige Hüne, ein erfahrener Grabungstechniker, nicht nur Archivalien aufgespürt und Nachkommen von Zeitzeugen befragt, sondern auch mit Spaten und Metallsonde neben der einstigen Richtstätte recherchiert.

Dass er im Frühjahr das Grab, in dem die Hingerichteten verscharrt worden waren, leer vorfand, war für ihn noch nicht einmal die größte unter den Überraschungen, über die er in seinem jetzt im kleinen Fischerhuder Verlag �Atelier im Bauernhaus� erschienenen 360-Seiten-Werk berichtet, das den Fall in mancherlei Hinsicht in neues Licht taucht.

Unter dem Titel �Anna aus Blumenthal� präsentiert Alsdorf gleichsam zwei Bücher in einem. Ein Drittel des Umfangs macht eine akribische Dokumentation des Mordfalls anhand einer Fülle teils unbekannter Urkunden aus. Zwei Drittel nimmt ein darauf basierender Historienkrimi nach Art der derzeitigen Mega-Bestseller �Tannöd� und �Kalteis� in Anspruch.

Die Sippe fädelt
eine Zwangsheirat ein


Knochenbrechen mit dem Rad

Wie in den Büchern von Andrea Maria Schenkel macht nicht das klassische �Whodunnit?� oder ein unerwarteter Plot den Reiz aus. Der Regionalforscher versucht vielmehr, die Lücken, die in der papiernen Überlieferung klaffen, schüssig zu füllen - mit detektivischem Spürsinn, Einfühlungsvermögen und solider Kenntnis des dörflichen Lebens anno dazumal.

Vor allem aber korrigiert er in seinem Debütroman das Bild der liederlichen Schlampe mit dem �Hang zum männlichen Geschlecht� und �sündhaften Begierden�, das die Ankläger � aus Alsdorfs Sicht ein volksferner, frauenfeindlicher Akademikerzirkel � von der Gattenmörderin zeichneten.

Der Darstellung der Justiz, die über viele Jahrzehnte die Überlieferung des Falles prägte, hält Alsdorf die Schilderung einer normalen, lebenslustigen jungen Frau entgegen. Die Magd Anna wird, so seine Lesart, durch eine Art Zwangsheirat, durch dörfliche Konventionen und einen sadistischen Mann in die Verzweiflung getrieben � und am Ende zu der blutigen Tat.

An ihren Ehemann, der ihr bis kurz vor der Trauung unbekannt war und der fast 30 Jahre älter ist als sie, ist das Dienstmädchen, eine Halbwaise, durch eine von der Sippe eingefädelte �Konvenienzehe� geraten. Die Heirat dient vor allem dem Zweck, der Brautmutter, einer erblindeten und verarmten Kätnerin, zu einem Auskommen als Altenteilerin auf dem Hof des ebenfalls  verwitweten Bräutigams zu verhelfen.

Baby im Bauch,
Knüppel im Kreuz

Doch bald nach der unfreiwilligen Hochzeit mit dem ungeliebten Mann kommt es zu einer schicksalhaften Begegnung. Bei dem aus dem Militärdienst zurückkehrenden ältesten Sohn des Bauern handelt es um Annas früheren Freund Claus. Als die Liebe unterm Reetdach neu erflammt, reagiert der gehörnte Bauer mit äußerster Brutalität, bis sich die junge Frau � Baby im Bauch, Knüppel im Kreuz � nicht anders zu helfen weiß, als den Berserker gemeinsam mit ihrem Geliebten nachts im Schlaf zu erdrosseln.

Dem Paar, das bald geständig ist, wird nach fünf Monaten im Kerker das Urteil eröffnet: Sie seien �nach vorheriger Ausschleifung� auf einer Kuhhaut zum Richtplatz �mit dem Rad ... von oben herab� hinzurichten.

Zu diesem Zeitpunkt allerdings beginnt sich die Stimmung im Volke zugunsten der Täter zu verändern. Anna, die im Kerker eine Tochter zur Welt gebracht hat, wird während der Haft, wie ein Justizbediensteter vermerkt, �offener, reuevoller, religiöser�, sie �sucht Trost in der Heiligen Schrift�. Und auch Claus läßt �sehr großes Schamgefühl� erkennen. "Die anfängliche Abscheu der Himmelpforter gegenüber dem Mörderpaar," so Alsdorf, "wandelte sich in Mitleid um."

Seine Majestät
zeigt sich gnädig


Der Pfahl mit dem Rad wird aufgerichtet

Als auch noch publik wird, dass der ermordete Haustyrann seinerseits mehrere Morde und Raubzüge auf dem Gewissen hatte, bittet die örtliche Justiz die hannoversche Regierung, die beiden Täter nicht der Knochenmühle des Räderns auszusetzen, sondern sie vom Scharfrichter mit dem Schwert enthaupten zu lassen.

Dem Gesuch ist Erfolg beschieden. Im Juni 1834 wird den Gefangenen mitgeteilt, König Wilhelm IV., der in Personalunion Hannover und England regiert, habe sich �aus landesherrlicher Macht bewogen befunden, an der Stelle der Strafe des Räderns die einfache Strafe des Enthauptens zu setzen�.

Die Urteilskorrektur entspricht dem aufkeimenden Zeitgeist jener Jahre. In der Ära der von Italien und Frankreich ausgehenden �kriminalpolitischen Aufklärung� verzichten immer mehr Staaten auf die Folter (Sachsen 1770, Österreich 1776, Bayern 1806), auf verstümmelnde Strafen wie das Handabhacken und andere Überbleibsel aus dem Mittelalter.

Der Delinquent wird
heimlich erdrosselt

So wird die Brandstiftern zugedachte Feuerstrafe 1813 in Berlin zum letzten mal vollzogen � in abgemilderter Form: Der Henker ist angewiesen, den Delinquenten, vom Publikum unbemerkt, zu erwürgen, bevor er ihn den Flammen übergibt. Ähnlich verfahren die Preußen auch beim Vollzug des Räderns: Vor der Exekution wird dem Scharfrichter eine geheime Kabinettsorder ausgehändigt, derzufolge der Täter vor Beginn der Tortur heimlich zu erdrosseln sei.

Mitten in diese Umbruchphase fällt der Himmelpforter Prozess. Während in der Landeshauptstadt an einer Strafrechtsreform gearbeitet wird, die mittelalterliche �Strafschärfungen� einschränken oder abschaffen soll, leitet die Stader Justiz ein Gnadengesuch von Anna und Claus nach Hannover weiter. Die Juristen fügen angesichts der Stimmung im Volk den Ratschlag hinzu, �das Ausschleifen der Verbrecher zur Richtstätte in Gnade zu erlassen�, um �größeres Aufsehen� zu vermeiden.

Das Schleifen auf der Kuhhaut, klassische Strafe für den Mord �an des Thäters eignem Herrn, an den eignen Ehegatten oder an nahe gesippten Freunden�, hat eine Jahrhunderte lange Tradition. Der Mörder wird, so Aufzeichnungen aus dem 18. Jahrhundert, �zur Verbüßung seines verübten ohnmenschlichen Verbrechens und zu jedermanns abscheulichem Beispiel in eine Kuhhaut eingenähet und durch ohnvernünftige Tiere auf die Richtstatt geschleifet�.

Die Untertanen
widersetzen sich

Trotz der Empfehlung seiner Juristen besteht Wilhelm IV. auf dem Vollzug der mittelalterlichen Strafverschärfung. Auf die Entscheidung des Königs reagieren die Untertanen an der Niederelbe, wie Alsdorf schildert, mit �bewußtem Unterlaufen des Urteils Seiner Majestät�.

Statt die Todgeweihten, wie seit dem Mittelalter üblich, auf einer Tierhaut über unwegsames Land zu schleppen, setzen die Himmelpforter die Verurteilten auf zwei neue, mit Kuhfellen dekorierte Pflugschlitten. Der zwei Kilometer lange Weg zum Schafott ist zuvor, wie ein Zeitzeuge berichtet, von den Bauern �eben gemacht und geeggt� worden, um die Qualen zu mindern.

Nachdem die beiden Delinquenten, angetan mit dem traditionellen weißen Totenkleid, vor einer riesigen Menge von Gaffern mit einem Schwert enthauptet worden sind, brechen die Himmelpforter mit einem weiteren Brauch. Zwar werden die beiden Armensärge am Fuße der Richtstätte, in ungeweihter Erde, verbuddelt. Danach aber müssen die Leichen, wie Alsdorfs Grabungen ergeben haben, exhumiert und nach christlichem Ritual erneut bestattet worden sein � wahrscheinlich �mit stillschweigender Duldung der Kirche� nachts und in aller Stille in der Armesünderecke des Dorffriedhofs.

Das Fallbeil ersetzt
das Schwert des Henkers

Fünf Jahre nach dem Blutgericht von Himmelpforten wird das Rädern mit eisernen Keulen aus dem �Criminalgesetzbuch für das Königreich Hannover� gestrichen. Und erst zwei Jahrzehnte darauf, 1859, wird das Schleifen auf der Kuhhaut abgeschafft, im selben Jahr das Schwert des Henkers durch das Fallbeil ersetzt.

Das alles ist lange her. Zum jüngsten �Europäischen Tag des Kampfes gegen die Todesstrafe� am 10. Oktober verbreitete Brüssel ein Kommuniqué mit einer bemerkenswerten Feststellung: �Seit 1997 hat es in keinem der 47 Staaten des Europarares � eingeschlossen die EU-Mitgliedsstaaten � eine Vollstreckung der Todesstrafe gegeben.�

Und der EU-Ministerrat gelobte: �Wir Europäer stehen als Verfechter der universellen Abschaffung der Todesstrafe weltweit in vorderster Front, und wir geben nicht Rast und Ruh, bis die Todesstrafe in sämtlichen Staaten dieser Erde der Vergangenheit angehört.�

Jochen Bölsche

www.ostemarsch.de

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