SPIEGEL 5/2001

Die Geisterbahn

Alte Waggons, marode Strecken, genervte Kunden: Regionalzüge zwischen Hamburg und Cuxhaven offenbaren den täglichen Wahnsinn im Nahverkehr der Bahn AG.

Irgendwann im Leben eines Pendlers gibt es den Moment, da ist alles egal.

Man stumpft ab, man regt sich einfach nicht mehr auf. Wie etwa Timo Richters: Seit acht Jahren fährt er mit dem Zug zur Arbeit, 6.29 Uhr ab Stade, in die gut 60 Kilometer entfernte PSD-Bank nach Hamburg, Stadtteil Wandsbek.

Heute geht's ja noch, findet Richters, denn die Deutsche Bahn AG (DB) hat Wagen im Einsatz, die intern als "modernisiert" gelten: einer mit rostbraunen Sitzen, die Wände orange, ein anderer grün gestreift und türkis, der dritte blau und cremefarben. Im vierten ist das Licht kaputt. Sie alle haben eins gemeinsam: Es sind jahrzehntealte Silberlinge, so genannt, weil sie früher von außen silbergrau verkleidet waren. Inzwischen wurden sie neu lackiert, aber das sieht man kaum alle Waggons sind mit Graffitis beschmiert. "Keiner weiß, wohin es geht", lautet einer der Sprüche.

Willkommen im Nahverkehr der Deutschen Bahn AG- Anfällige Dieselloks, zugige Waggons, abweisende Bahnhöfe. Die marode Strecke entlang der Elbe ist ein Beispiel für die alte Behördenbahn: Jahrzehntelang wurde hier kaum investiert, weder in die Züge noch in die Bahnhöfe und schon gar nicht in die Trasse, die an manchen Stellen noch wirkt wie 1881, als die ersten Loks über die Strecke dampften- Der Kunde ist ein Beförderungsfall und der Fahrplan an betrieblichen Vorgaben statt an der Nachfrage orientiert.

Der Irrsinn auf der Schiene hat hier System, Tag für Tag, beispielsweise mittwochs um 11.15 Uhr ab Hamburg-Neugraben. Nur wenige Fahrgäste sitzen im Stadtexpress 24 926 nach Stade, der dennoch an jedem Milchkrug hält. Kein Mensch steigt in Dollern aus, die Lok fährt wieder an, bremst: Agathenburg. Niemand wartet, bloß zwei Passagiere verlassen den Zug. Man muss fast sagen: Sie plumpsen hinunter, so tief liegt die matschige Wiese, die an dieser Station den befestigten Bahnsteig ersetzt.

Vollends grotesk wird es ab Stade: Hier endet die Elektrifizierung der Strecke, Signale und Schranken werden von nun an oftmals noch mechanisch über Seilzüge bedient. Spätestens ab jetzt geht es nur mit jahrzehntealten Dieselloks weiter. Und bei denen sind die Lokführer auch als Allroundmechaniker gefragt: Mal klemmt ein Relais im Maschinenraum, dann ist der Turbolader überhitzt, und nach wenigen Fahrten ist der Tank schon wieder leer - kein Wunder, bei 2500 PS. Vier Liter schluckt eine Lokomotive der Baureihe 218, pro Kilometer versteht sich.

Und das ist ökonomisch wie ökologisch verrückt: 20-mal am Tag zuckeln solche Energieschleudern zwischen Hamburg und Cuxhaven hin und her; außerhalb des Berufsverkehrs sind sie oft so leer wie mittwochs -am die Mittagszeit: Genau 15 Passagiere sitzen in den sechs Waggons des Geisterzugs, und der verbraucht dabei 400 Liter Diesel auf 100 Kilometer - rund 27 Liter pro Kopf. Dagegen ist selbst Porsche-Fahren billiger, 12,9 Liter Superbenzin durchschnittlich braucht ein 911 Turbo im Vergleich.

Die Bahn kann sich den Verfall von Strecken und Zügen gegenüber rund 190 000 Einwohnern allein in und um Stade locker erlauben, denn ihr Konkurrent, die Straße, ist hier nur eine schlechte Alternative. Die B 73 ist chronisch verstopft und nach 75 Toten (seit 1995) als Todesstrecke" ("Bild") gefürchtet. Und bis die geplante A 26 zwischen Hamburg und Stade Entlastung schafft, wird es noch dauern: Über 20 Jahre schon haben Politiker und Anwohner die Autobahn entlang der Elbe zerredet, Obstbauern gegen die Beschützer des Wachtelkönigs. Jetzt erst hat ein Gericht den Bau des ersten Teilstücks erlaubt.

Viele der rund 33 000 Autopendler pro Tag würden wohl sofort auf die Bahn umsteigen, gäbe es nur ein vernünftiges Angebot. So aber bleibt alles beim Alten, das Passagieraufkommen ist mit 7500 Pendlern pro Tag zwischen Hamburg und Stade seit Jahren unverändert.

Daran ist nicht allein die Bahn schuld, es fehlt auch, zumindest bislang, an einer ausreichenden Unterstützung durch die Politik. Schließlich entscheiden die Bundesländer als Großkunden, weiche Leistungen sie bestellen, und den Ausbau der Verkehrswege sollte der Bund finanzieren. Pech für die Pendler: Seit Jahren sind die Probleme bekannt, und nichts passiert. Von 170 000 auf 190 000 ist allein im Landkreis Stade die Einwohnerzahl seit 1990 gestiegen. "Hamburg hat Angst, dass noch mehr Steuerzahler wegziehen", sagt Landrat Günter Armonat. Die Hansestadt blockiere darum eine bessere Anbindung seiner Region.

Weil der Bund und die Deutsche Bahn sich nicht kümmern, will sich nun Niedersachsens Ministerpräsident Sigmar Gabriel für die Strecke engagieren. wir wollen uns am Ausbau der Trasse beteiligen", sagt der Regierungschef aus Hannover: "Jetzt ist es an der Bahn, einen konkreten Zeit- und Kostenplan vorzulegen."

Und so geht es munter weiter, mal ist die Deutsche Bahn schuld, mal die Politik, und am Ende passiert nichts. Nicht einmal moderne Triebwagen sind auf mittlere Sicht geplant - dabei sind die leichter, sparsamer, komfortabler und schneller als die alten Lokomotiven mit ihren Silberlingen. Und je nach Fahrgastaufkommen können sie auch noch unkompliziert zusammengekoppelt oder getrennt werden.

Statt dessen verzetteln sich Hamburg und Niedersachen in einen Streit um die S-Bahn: Über 100 Millionen Mark würde es kosten, um die Hamburger Wechselstrom-Züge für das Gleichstromnetz der Deutschen Bahn auszurüsten. Eine gute Sache, denn dann könnten die nagelneuen, modernen S-Bahnen über die Stadtgrenze hinaus zumindest bis Buxtehude oder sogar Stade fahren. Nur: Wer zahlt den teuren Umbau?

Während in diesem Punkt wenigstens die Kosten bekannt sind, fehlen bei der Bahn für die gesamte Verbindung bis Cuxhaven selbst die einfachsten Daten: Welche Einnahmen bringt sie, was kosten Unterhalt und Betrieb, wie hoch sind die Subventionen?

Und wie viel am Ende die Totalsanierung kosten würde, weiß auch noch niemand. Richtig teuer wird es, wenn der geplante Tiefseehafen tatsächlich nach Cuxhaven kommt. Dann müsste für rund 100 Millionen Mark der komplette Gleisunterbau mehrere Meter tief durch Kies ersetzt werden, um den zu erwartenden schweren Güterverkehr zu ermöglichen; die Torfböden der Region wären zu instabil.

Entschieden ist freilich noch nichts, und so werden mindestens bis 2003 die alten Züge weiter nach Cuxhaven zuckeln, auch tagsüber, wenn kaum einer mitfährt. Alles bleibt wie früher, nur nicht die Geschwindigkeit: Eine Stunde und 48 Minuten brauchte 1939 der E 170 von Hamburg bis Cuxhaven. Heute dauert es fünf Minuten länger.
 



 

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