Des Fährmanns
schwarze Tauben

Von Jochen Bölsche

Leseprobe aus dem Buch "Über die Oste"


 
Was der alte Ostener am Biertisch zum Besten gibt, erinnert ein wenig an Alfred Hitchcocks Gruselfilm "Die Vögel". Ein Schuljunge sei er gewesen, erzählt er, da habe er mal im Apfelhof mit seinem neuen Luftgewehr auf eine Dohle geschossen. Der Knall war kaum verhallt, die Beute inspiziert, da habe sich mit wütendem Schnarren ein ganzer Schwarm der schwarzen Vögel auf ihn gestürzt.

Der Schreck scheint dem Mann, wenn er seine Story erzählt, noch nach einem halben Jahrhundert in den Knochen zu stecken. Nicht ein einziges Mal, läßt er wissen, habe er die grüne Eisenleiter erklommen, die ganz nach oben führt ins wirre Gestänge der Schwebefähre, wo seit Menschengedenken die Dohlenkolonie nistet, die zum Dorf gehört wie die Schwäne zur Hamburger Alster, die Raben zum Londoner Tower und die Affen zum Felsen von Gibraltar.

Schwer zu sagen, ob der Höhenscheu des Mannes, wie er selber beteuert, nur eine allgemeine Schwindelneigung zugrunde liegt - oder ob sie nicht doch einen späten Reflex auf die Dohlenängste von einst darstellt. Sicher ist allerdings: Er hat gut daran getan, die Nistregion zu meiden. Denn wenn Dohlen erst einmal einen Feind identifiziert haben, prägt dessen Bild sich ihnen lebenslang ein. Und mehr noch: Sie können diese Erfahrung per Schnarrgeräusch sogar nachfolgenden Generationen vermitteln.

Niemand hat das besser beschrieben als der Nobelpreisträger Konrad Lorenz, der das Leben der Dohlen ergründet hat wie kaum ein anderer. Immer wieder hat der  Verhaltensforscher beobachtet, dass die schwarz glänzenden Vögel ein "wüstes Schnarrkonzert" anstimmen, "erschreckend und satanisch" anzuhören, sobald jemand  nach einer Dohle greift - und dass die Tiere sich "sehr lange merken, welches Wesen ihre Schnarr-Reaktion ausgelöst" hat.

Um seine Forschungen nicht abbrechen zu müssen, wollte Lorenz natürlich verhindern, dass der Dohleninstinkt diese "unauslöschliche Gedankenverbindung" auch in Bezug auf seine Person knüpft. Daher stieg der Wissenschaftler zum Beringen von Jungvögeln nur in Verkleidung aufs Dach: In einem gruseligen Teufelskostüm mit Hörnern, Schweif und Klauen kletterte der Herr Professor von Schornstein zu Schornstein, zur Verwunderung der Passanten drunten, die so entgeistert gafften, dass Lorenz fürchten mußte, "ins Narrenhaus eingeliefert zu werden".

Nicht bloß ein gutes Gedächtnis haben Ostens Fährdohlen - sie sind, wie andere Rabenvogelarten auch, geradezu Intelligenzbestien. Mit einer Walnuß, die sie im Gras eines Gartens erspähen, fliegen sie in eine Kastanie am Fährplatz. Aus deren Geäst lassen sie die harte Nuß fallen, gezielt aufs Kopfsteinpflaster, das im Herbst mit Schalen übersät ist.

Noch raffinierter gehen Dohlen in Städten vor, wo sie Nüsse auf Zebrasteifen ablegen, um sie von Autos überfahren zu lassen. Um ihren Snack zu deponieren und das freigelegte Innere wieder abzuholen, stolzieren die Dohlen zur Verblüffung der Vogelforscher immer nur dann auf die Fahrbahn, wenn die Fußgängerampel auf Grün steht.

Wer in Osten beobachtet, wie Dohlen auch schon mal ein Stöckchen als Werkzeug verwenden oder wie sie harte Brotreste vor dem Verzehr in Osteschlamm einweichen, der neigt dazu, das Urteil des Zoologen Thomas Bugnyar zu teilen, der 2008 in der Zeitschrift "Bild der Wissenschaft" schrieb, manche Rabenvögel könnten "fast alles, was Schimpansen auch können". Bugnyar: "Menschenaffen müssen sich ihre Spitzenposition in Sachen tierischer Intelligenz mit den Raben teilen."

Dass der Mensch die Dohle "sehr leicht zahm machen und ohne Mühe sprechen lehren" kann, ist schon einer Quelle aus dem Jahre 1781 zu entnehmen. Andere Fähigkeiten sind dort, naturgemäß, nicht verzeichnet worden: Die Dohle von heute läßt sich auch schon mal auf dem Seitenspiegel eines Autos chauffieren, und sie kann, wie Experten im Forum von www.rabenvoegel.de beteuern, nicht nur, wie ihre Vorfahren auch, die Stimmen anderer Vogelarten imitieren, sondern auch auch die Klingeltöne der Handys.

Ihre Anpassungsfähigkeit beweisen die Allesfresser auch bei der Quartiersuche. Ins Gestänge des technischen Baudenkmals geflüchtet hat sich eine Vogelart, deren einstige Brutstätten kaum noch zugänglich sind, zum Beispiel Nischen in Ruinen und  Schlupflöcher in Kirchtürmen - weshalb die Dohlen früher "des Pastors schwarze Tauben" genannt wurden.

Weil auch hohle Baumstämme und alte Schwarzspechthöhlen von der Forstverwaltung lange Zeit wegsaniert worden sind, hat der Brutvogelbestand beispielsweise in Baden-Württemberg sich binnen eines Dritteljahrhunderts um 80 Prozent verringert. Im ganzen Stadtstaat Berlin, wo gerade mal 150 Dohlenpaare noch brüten, gibt es keine einzige Dohlenkolonie mehr - Osten beherbergt also eine Rarität.

Ihre legendäre Flexibilität bewiesen die Fährdohlen, als das Bauwerk zwecks Restaurierung vorübergehend mit Plastikplanen verkleidet war. Da umkreisten die schwarzen Kunstflieger verstärkt den Turm von St. Petri, wo sie zwecks Nestbaus in den Stundenglocken-Erker so viele Zweige trugen, dass das Gebimmel bald verstummte. Andere Dohlen bauten Nester in Ostener Schornsteinen, sofern die noch nicht mit Dohlenschutzgittern versehen waren.

Als Schornsteinnister legen die Höhlenbrüter verblüffende intellektuelle und akrobatische Fähigkeiten an den Tag. Schon Konrad Lorenz beobachtete, dass die künftigen Elterntiere zunächst geraubte Brötchen in den Kaminzug werfen, um zu testen, ob er für den Nestbau taugt: Sie hören, so Lorenz, "am Fallgeräusch der Brötchen, ob diese, durch Unebenheiten im Kamin, anschlagen (Kamin ist dann geeignet) oder glatt durchsausen (Kamin ist nicht geeignet für die Aufnahme von Stöckchen)".

Tief im Kamin vollzieht sich Wunderbares: Die Jungen, reingekommen als Ei, verlassen das Nest im Schornstein gleichsam als Phoenix aus der Asche: Sozusagen auf allen Vieren, mit Krallen und Flügelspitzen, verstehen sie es, im Kaminzug auf und ab zu kraxeln.

Die Angewohnheit, in Schornsteinen zu brüten, hat allerdings über die Jahrhunderte den Ruf der Dohle verstärkt, sie sei, wie anderes schwarzes Geflügel auch, ein Unglücksbote, ja ein Totenvogel. Denn natürlich kam es vor, dass Funkenflug das mit Zunder und Moos, Heu und Papierfetzen gepolsterte Nest in Brand setzte und damit das ganze Strohdachhaus zerstörte.

Überlagert worden ist der düstere Volksglaube von einst mittlerweile weitgehend durch Bewunderung für die verwegenen Flugkünste und für das einzigartige Sozialverhalten der geselligen Dohle, die sich schon im ersten Herbst einen Partner fürs Leben sucht, bis zum Tod eine Dauerehe führt und fähig scheint zu Mitleid und Empathie. Rangeleien verhindert eine feste Rangordnung, die sich nur durch Paarung ändert: Ein subalternes Weibchen steigt dadurch sofort auf in den Rang sogar des stärksten Männchens - "Frau Doktor" läßt grüßen.

Wie unverbrüchlich der Treuebund ist, wußten schon die Menschen des 18. Jahrhunderts, als ein tief beeindruckter Zeitgenosse schrieb: "Wenn ein Männchen und ein Weibchen sich einmal gepaart haben, so bleiben sie sich lange Zeit getreu und miteinander durch Zuneigung verbunden... Man sieht, wie sie sich auf mannigfaltige Weise liebkosen, ihre Schnäbel zusammenstecken, als sie sich küssen wollten, alle Arten der Verbindung versuchen, bevor sie sich der letzten Vereinigung überlassen."

Wie unerschütterlich die Liebe unter den Fährdohlen ist, erfuhren auch Anwohner der Fährstraße, die ein Loch in ihrem Schuppen zumauerten, ohne zu wissen, dass darin ein Weibchen brütete. Draußen, erinnert sich Nachbarin Meike Brinkmann, "klagte unsagbar kläglich das todtraurige Männchen".

Von all dem wird der Junge mit dem Luftgewehr nichts gewußt haben, den einst die Reaktion der Rabenvögel so nachhaltig verschreckte. Nach der Dohlenattacke faßte er - as hei vertellt - eine Entscheidung fürs Leben: "Ich werde nie Jäger, ich werde Angler." Und er wurde einer der besten weit und breit.

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