"Sämtliche Deiche erhöhen"

Von Jochen Bölsche

Die Deiche an deutschen Küsten und Flüssen wiegen Anwohner in trügerischer Sicherheit. Der Anstieg des Meeresspiegels, warnen Experten, erhöht zusammen mit der Landabsenkung und einer verfehlten Schifffahrtspolitik die Gefahr von Katastrophen in den kommenden Jahrzehnten.

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(Auszug aus einer zweiteiligen Serie auf SPIEGEL online, Januar 2005)
 

... Eine zunehmende Zahl von Klimaforschern und Küstenschützern warnt vor wachsenden Gefahren, die den Anrainern der deutschen Wasserkante fast ein halbes Jahrhundert nach der großen Hamburger Sturmflut  drohen. Denn obwohl seither die Deiche erhöht worden sind, wird es sich an Deutschlands Küsten in den kommenden Jahrzehnten stellenweise keineswegs sicherer leben lassen als im Katastrophenjahr 1962.

"Delikat" nennt die "Frankfurter Allgemeine" den Inhalt eines im Heidelberger Springer-Verlag erschienenen 80-Euro-Wälzers mit dem Titel "Klimawandel und Küste". Für dieses Werk haben die Wissenschaftler Bastian Schuchardt, Michael Schirmer und 20 Mitautoren Zahlen recherchiert, deren Bekanntwerden in manchen Regionen den Wert von Immobilien, so die "FAZ", abstürzen lassen könnte. Die Forscher haben das Schutzniveau der Deiche in verschiedenen Abschnitten der Nordseeküste verglichen - und sind zu verblüffenden Erkenntnissen gekommen.

"Jahrtausendflut" - in welchem Jahr?

Mustergültig erscheinen die besonders dicht besiedelten Niederlande, die Wiege des Wasserbaus. Dort, wo 1953 bei einer gewaltigen Sturmflut rund 1800 Menschen umkamen, ist der Küstenschutz heute so üppig bemessen, dass er sogar Ereignissen standhält, wie sie sich rechnerisch nur alle 4000 bis 10.000 Jahre ereignen. Deutsche Deiche hingegen sind für eine "Wiederkehrhäufigkeit" extremer Zustände von lediglich 3000 Jahren (rechts der Weser) beziehungsweise 1000 Jahren (links der Weser) ausgelegt. Selbst solche Zahlen wirken auf Laien beruhigend. Doch Mathematiker wissen, dass das Eintreten einer so genannten Jahrtausendflut im ersten Jahr des Jahrtausends genauso wahrscheinlich ist wie im letzten Jahr.

Politischen Sprengstoff birgt eine andere Berechnung der Autoren. Das ohnehin vergleichsweise niedrige Schutzniveau der deutschen Deiche wird sich demnach bis zum Jahr 2050 unweigerlich weiter verringern, und zwar um den Faktor 5 bis 10. Der Küstenschutz links der Weser etwa würde bereits bei Extremsituationen versagen, wie sie statistisch alle 130 Jahre eintreten.

Dass die Schutzwirkung der deutschen Deiche derart rasch zerbröselt, begründen die Wissenschaftler mit zwei parallel ablaufenden Prozessen:

>>> Bis zur Jahrhundertmitte werde der Boden der Wesermündung um 15 Zentimeter absacken - eine unabwendbare, auf tektonischen Ursachen beruhende "säkulare Senkung".

>>> Zugleich werde der Meeresspiegel der Nordsee infolge des vom Menschen verursachten globalen Klimawandels zugleich um 40 Zentimeter steigen.

Das Zusammenspiel beider Trends werde zudem bewirken, dass der Reibungsverlust abnimmt, der beim Heranrollen der Wellen an die Küsten entsteht. Dieser Effekt entspreche einer Reduzierung der Schutzwirkung um weitere 15 Zentimeter Deichhöhe.

Die Dämme müssten also - summa summarum - um 70 Zentimeter erhöht werden, wenn auch nur das jetzige Schutzniveau gehalten werden solle.

Wissenschaftler Schirmer, im Hauptberuf an der Uni Bremen für das Forschungsministerium in Berlin und im Ehrenamt als Deichhauptmann in Bremen tätig, sieht in der absehbaren Entwicklung ein "nicht mehr akzeptables Risiko" und plädiert folglich für eine Verbesserung nicht nur des Klimaschutzes, sondern auch des Küstenschutzes: "Angesichts dieses Szenarios müssten sämtliche Deiche an Nord- und Ostsee erhöht werden."

Bereits im 20. Jahrhundert ist der Meeresspiegel um etwa 20 Zentimeter gestiegen. Dass sich dieser Trend noch verstärken wird, steht außer Frage. Der globale Klimawandel, der die Meere erwärmt und die Gletscher abschmelzen lässt, sei "nur noch eine Frage des Ausmaßes", resümierte unlängst eine der Koryphäen auf diesem Gebiet, der Kieler Professor Mojib Latif, bei einem Küstenschutz-Symposium in Bremen.

Ähnlich wie der Bremer Schirmer argumentiert seit längerem auch dessen Hamburger Forscherkollege Professor Helmut Graßl, Direktor am Max-Planck-Institut für Meteorologie.

Entlang der Elbe, warnt Graßl, sacken wie an der Weser die Landmassen links und rechts der Ufer zunehmend ab - mitbedingt nicht zuletzt durch das Abpumpen von Erdgas und von Grundwasser.

"Die meisten Bürger wissen gar nicht, wie viel unseres Landes schon freigepumpt wird", sagt der Wissenschaftler. "Um weiterhin Landwirtschaft betreiben zu können, muss man den Wasserspiegel absenken."

Der sei inzwischen auch an der Unterelbe so niedrig, dass das Land sich vielerorts nicht mehr selbst entwässere und dass der größte niedersächsische Elbnebenfluss, die Oste, schon "nicht mehr freiwillig in die Elbe fließt".

Wenn die Pumpen der Schöpfwerke an den grünen Deichen des idyllischen Flusses ausfallen, würde das Wasser nicht mehr gen Nordsee abfließen, sondern Teile des platten nassen Dreiecks zwischen Elbe und Weser fluten.

"Sturmwind-Wetterlagen nehmen zu"

Weil in Norddeutschland "immer mehr Gebiete bis zu zwei Metern unter Null" liegen, wären die Folgen von Deichbrüchen laut Graßl verheerender als in früheren Jahrzehnten. Auch die immer weiter abgesackte Hamburger Elbinsel Wilhelmsburg - eine der Todeszonen bei der Sturmflut 1962 - wäre, so Graßl, "ohne Deiche längst ein schönes Süßwasserwatt".

Der globale Anstieg der Weltmeere potenziert die Wirkung der Landabsenkungen, wie sie auch im Emsland und in Dithmarschen beobachtet werden. Jede künftige Sturmflutwelle "reitet schließlich auf dem gestiegenen Meeresspiegel", erläutert Graßl.

Fatalerweise bewirkt der Klimawandel - wie auch die Statistiken von Rückversicherern wie der Münchner Rück belegen - jedoch nicht nur einen rascheren Anstieg des Meeresspiegels, sondern auch immer heftigere Sturmfluten.

"Sturmwind-Wetterlagen nehmen an Stärke und Häufigkeit deutlich zu", registrierten Klimaforscher der Universität Oldenburg. "Die bisherigen Extremwasserstände bei Sturmfluten werden immer öfter erreicht bzw. überschritten."

Orkanfluten setzen neue Höchstmarken

Jahrzehntelang galten an der Nordsee die Hochwassermarken der 1962er Schicksalsflut, die vier bis sechs Meter über Normalnull aufgelaufen war, als Basis für die Berechnung der "Bemessungswasserstände" für Deiche. Doch diese vermeintlich langfristige Absicherung war, so die Oldenburger Wissenschaftler, bereits wenige Jahrzehnte später nicht mehr gewährleistet. Extremwasserstände und Orkanfluten setzten bald schon neue Höchstmarken - so bereits 1975, 1976, 1981, 1990 und 1992.

Zwar rüsten sich die Küstenländer - und auch die Anrainer der großen Flüsse im Binnenland - seit einiger Zeit verstärkt für die veränderte Bedrohungslage. Die Münchner Landesregierung kalkuliert bei neuen Hochwasserschutzanlagen etwa an der Donau und deren Nebenflüssen einen "Klimafaktor von plus 15 Prozent" ein. Hohe Summen flossen 2003 in Niedersachsen (50 Millionen Euro), Schleswig-Holstein (43 Millionen Euro) und Mecklenburg-Vorpommern (29 Millionen Euro) in den Küstenschutz.

Doch gewaltige Aufgaben stehen noch an. Allein in Niedersachsen sollen mindestens 200 Kilometer Deiche ausgebaut oder erhöht werden.

In Greifswald entsteht im kommenden Jahr für 25 Millionen Euro ein riesiges Sperrwerk, der bis dato teuerste Küstenschutzbau in Mecklenburg-Vorpommern.

Sehr viel aufwendiger wäre ein Sperrwerk, das bei Katastrophengefahr den Mündungstrichter der Elbe abriegeln könnte, wie es schon seit Jahrzehnten an vielen Nebenflüssen praktiziert wird. "Für die Stadt Hamburg", so die Oldenburger Klimaforscher, wäre ein "umfassender und effizienter Schutz gegen künftige Sturmfluten vermutlich nur mit dem Bau eines Elbe-Sperrwerkes zu erreichen". Denn die Elbe sei, ebenso wie Ems und Weser, in besonderem Maße "durch die zunehmende Häufung von Extremwasserständen gefährdet". Hier nämlich habe die "künstliche Vertiefung der Schifffahrtsrinnen" den Tidenhub, die Differenz zwischen Hoch- und Niedrigwasser, hochgetrieben - und damit das Katastrophenrisiko.

Hafenwirtschaft gegen Sperrwerksbau

Dennoch ist der Bau eines Elbsperrwerks in Hamburg kein Thema. Zwar waren 1989 bei den Sitzungen einer "Unabhängigen Kommission Sturmflut" die Vertreter von Wissenschaft, Deichverbänden und Baubehörde einhellig der Meinung gewesen, ein Sturmflutsperrwerk sei die beste Lösung. Doch die professionellen Deichschützer in der Kommission konnten sich nicht durchsetzen.

Warum sie scheiterten, hat unlängst der Bremer Sozialwissenschaftler Professor Gerhard Bahrenberg für die hannoversche Akademie für Raumforschung und Landesplanung rekonstruiert: Die (politisch ausschlaggebenden) Vertreter der Parteien in der Sturmflut-Kommission folgten sämtlich der Auffassung der Hafenwirtschaft. Die aber hatte geltend gemacht, "dass in den Zeiten einer Schließung der Sperrwerke wegen Hochwassers der Hafen für den Schiffsverkehr nicht mehr zugänglich sein würde".

Im Interesse der Hafen-Lobby wollen Hamburgs Politiker nun ein weiteres Risiko für den Küstenschutz eingehen: Der Senat will die Elbe, die im 19. Jahrhundert gerade mal vier Meter tief war, zugunsten einer neuen Generation von Superfrachtern demnächst auf mehr als 15 Meter ausbaggern lassen - was nach Ansicht der Oldenburger Fachleute wie jede Flussvertiefung die Hochwassergefahr entlang des Stroms "drastisch erhöht".

"Ich bin mir nicht sicher, ob die Deiche in Hamburg bei einer neuen Jahrhundertflut halten werden", sagt auch der Stader Kreistagsabgeordnete Egon Ohlrogge, der bis zu seinem Ruhestand an der Seefahrtsschule in Grünendeich an der Elbe lehrte.

Der Ex-Kapitän fordert den Hamburger Senat auf, im Falle der geplanten Elbvertiefung schon mal einen Geldfonds einzurichten - zum Zweck der Soforthilfe für die Opfer der nächsten Sturmflut.

SPIEGEL online Januar 2005


Experte: 2030 strömt Flut über die Deiche

Klimawandel und Sturmflut-Angst � Professor Dieter Kohnke aus Buxtehude warnt

Buxtehude (ccs). Hochwasser, Stürme, Dürren � weltweit gibt es immer häufiger extreme Wettersituationen. Das Wetter über längere Zeiträume beobachtet, nennen Meteorologen Klima und dessen stetiger Wandel macht dem früheren Leiter des Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrografie (BSH), Professor Dieter Kohnke aus Buxtehude, erhebliche Sorgen. Seine These: Ab 2030 werden an der Niederelbe die Sturmfluten über die Deiche strömen.

Kohnke, der in Buxtehude lebt, war von 1987 bis zu seiner Emeritierung im Oktober 2003 Direktor und Professor des BSH. Er warnt: Die Ergebnisse der Klimaforschung sehen nicht gut aus. Scheinbar geringe Veränderungen sind für die Klimaforscher erschreckende Erkenntnisse: Etwa der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur um 0,8 Grad seit 1860. Seit es Temperaturmessungen gibt, fallen die sechs wärmsten Jahre in die Zeit zwischen 1996 und 2003. Der rasante Anstieg der Lufttemperatur ist für die Klimaforscher ein Alarmzeichen. Das zeige sich auch an den winterlichen Vereisungszeiten. In Kanada und Russland sind diese um 18 Tage im Jahr kürzer geworden. Auch alpine Vereisungen, etwa der Moteratsch-Gletscher bei St. Moritz schmelzen seit Jahrzehnten immer mehr ab. Kohn spricht von einem �dramatischen Rückgang�.

Der Anstieg des Meeresspiegels (30 Zentimeter in Cuxhaven seit 100 Jahren) hat nur eine Ursache im Abschmelzen kontinentaler Eismassen. Eine andere ist das Absinken der Erdoberfläche selbst in einigen Küstenregionen. Aber auch die Wärmeausdehnung der ozeanischen Wassermassen trage zu der für niedrig gelegene Küsten bedrohlichen Entwicklung bei.

Elbvertiefung � eine Gefahr

Elbvertiefungen, die dem Wasser ein schnelleres Eindringen in den Mündungstrichter erlaubten, lehnt der ehemalige BSH-Leiter aus Gründen des Küstenschutzes ab.

Wie sehr sich Änderungen des Wärmehaushalts in der Atmosphäre auswirken, zeigt sich an der Ausdehnung warmer Wassermassen im den Meeren. Kohnke: �Die Ozeanoberfläche mit Temperaturen über 27 Grad hat sich in 100 Jahren um 50 Prozent vergrößert.� Die 27-Grad-Marke, so Kohnke, sei wichtig, weil sie Meeresgebiete kennzeichne, in denen Hurrikans entstehen.

Dabei hatte sich die Atmosphäre rund 1000 Jahre lang zunächst abgekühlt, wie die Untersuchungen von Bohrungen im angeblich ewigen Eis der Antarktis ergeben haben. Erst seit der Industrialisierung steige die Temperatur aus meteorologischer Sicht rapide.

Ein wesentlichen Beitrag dazu leistet der durch den Menschen verursachte starke Anstieg der so genannten Treibhausgase in der Atmosphäre, zu denen Wasserdampf ebenso gehört wie Kohlendioxid, aber auch die berüchtigten Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffe (FCKW).

Es sei ein �Skandal�, so Kohnke, dass die Bush-Administration nicht das Kyoto-Klimaschutzprotokoll unterzeichne, so dass auch die USA zu einer Minderung des Kohlendioxid-Eintrags in die Atmosphäre verpflichtet würden.

Deutschland hingegen habe seine Hausaufgaben für Kyote schon recht gut erledigt.
 

Stader Tageblatt vom 11.11.2005
 
 
 

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