Leserbrief

"Wir wuchsen hinter einer
Mauer des Schweigens auf"

Wir alle brauchen solche Gedenkstätten, stellvertretend für alle Arten von Lagern - vor 1945 wie nach 1945, diesseits und jenseits des (ehemaligen) Eisernen Vorhangs.

Unsere Generation strebt danach, die Eltern(generation) zu verstehen. Wir wuchsen hinter einer riesigen Mauer des Schweigens auf und unsere Fragen zu späterer Zeit fanden nur ungenügende Antworten. Wir wollen unsere Eltern aber wenigstens im Nachhinein verstehen, was sie erleben mussten, was sie so traumatisierte, dass sie nicht darüber sprechen konnten oder wollten. Dies ist sicher auch ein Grund, warum in Sandbostel manche Leute vor Ort das Gelände am liebsten verschwinden ließen. Es ist die Weigerung, sich mit den Erlebnissen auseinanderzusetzen bzw. auch verdrängte Schuldgefühle der Einheimischen, die sich außerstande sahen, damals mit diesen Tatsachen vor ihrer Tür umzugehen.

Es bedarf viel Empathie, sich in Menschen hineinzuversetzen, die so grausame Erlebnisse erfahren mussten, wie sie beispielsweise in Sandbostel geschahen. Wenn unsere Väter überhaupt erzählten, dann waren es Fragmente über Quälereien, Hunger, Kälte, Krankheit, Folter.... Ob im Bombenhagel in den Städten, im Kugelhagel an der Front, ob in jahrelanger Gefangenschaft oder auf der Flucht - diese Erlebnisse verstörten die Menschen und machten sie sprachlos, nachdem sie die Katastrophen überlebten. Das Lager in Sandbostel als Gedenkstätte für alle Grausamkeiten, die im Namen einer Ideologie Menschen angetan wurden, ist eine Notwendigkeit. Gedenken ist eine Form von Moral, die den zahllosen, z. T. namenlosen Opfern einen (späten) Respekt zollt, Gedenken ist ein Ausdruck von Mitgefühl für die erlittenen Qualen und Ungerechtigkeiten, Gedenken ist Erinnern und Mahnen zugleich, die Würde eines jeden Menschen zu achten, gleichgültig welcher Abstammung er ist.

Ich habe großen Respekt vor solchen Stätten und weiß, dass auch andere Länder derartige Denk-Male bauen. Es gibt z. B. in der Nähe von Wolgograd (früher Stalingrad) angeblich eine Gedenkstätte, wo auf einer riesigen Mauer die Namen aller Opfer und beteiligten Soldaten, die dort ihr Leben ließen, eingemeißelt wurden. Dass dort so eine Gedenkstätte entstand, wo ein fremdes Volk der Namen, auch deutscher Soldaten - den ehemaligen Feinden - gedenkt, verdient Respekt und fordert von uns ein Gleiches.

Unsere Geschichte ist eine schwere Bürde und Gedenkstätten helfen uns, sie zu tragen, ohne daran zu zerbrechen, ohne in einer ständigen Scham leben zu müssen. Gedenkstätten machen uns immer wieder bewusst, wie kostbar ein Menschenleben doch ist: ein Mensch, der Eltern hatte, Geschwister, Ehepartner und Kinder, die alle um ihn trauerten. Ich wünsche mir, dass wenigstens wir in Europa uns soweit entwickelt haben, dass unter uns Völkern nie wieder solche grausamen Kriege ausbrechen. Andere Regionen (z.B. Naher Osten) in unserer Welt haben da noch einen enormen Lernprozess vor sich. Unser Besuch mit der Exkursion der AG Osteland hinterließ in mir ein Gefühl der kalten Beklemmung - ein Hauch dessen, was die Menschen damals erlebt und empfunden haben müssen. Auch das ist Teil eines Gedenkens. Ich bin also gespannt und neugierig, wie die Verantwortlichen die Aufgabe lösen, und werde mir mit Sicherheit die Stätte anschauen, wenn sie fertig ist.

Sigrid Beyer, Osten