Zweieinhalb Wochen im April
Das KZ-Auffanglager Sandbostel

Kriegsgräberstätte in Sandbostel: Hier liegen 2397 Häftlinge
des KZ-Auffanglagers begraben © Stiftung Lager Sandbostel


 
Am 29. April 2012 jährt sich zum 67. Mal die Befreiung des Kriegsgefangenen- und KZ-Auffanglagers Sandbostel. In diesem Jahr liegt der Schwerpunkt der Veranstaltungen der Stiftung Lager Sandbostel auf dem Schicksal der im April 1945 in das Stalag X B gelangten KZ-Häftlinge.

Von Dörthe Engels

„Le mouroir“ nennen französische KZ-Überlebende und ihre Angehörigen Sandbostel – „das Sterbelager“. Als Mitte April 1945 etwa 9.000 Häftlinge aus dem Konzentrationslager Neuengamme und seinen Außenlagern in Sandbostel ankamen, begann das letzte Kapitel des Kriegsgefangenenlagers Stalag X B. 

Auf ihrer Flucht vor der heranrückenden Front rekrutierte die SS Soldaten der Kriegsmarine und Wehrmacht sowie Polizisten und Zivilisten, um die letzten lebenden KZ-Häftlinge und damit den Beweis der Verbrechen des Nationalsozialismus in die entlegenen Gebiete Deutschlands zu schaffen. Ziel der Räumungstransporte war zunächst das Konzentrationslager Bergen-Belsen. Die sich abzeichnende Befreiung Bergen-Belsens durch die britische Armee am 15. April und zerstörte Schienennetze zwangen die Transporte zu einem ständigen Richtungswechsel und einer Irrfahrt durch ganz Norddeutschland.

Die Häftlinge – geschwächt von Krankheiten und Unterernährung, dicht gedrängt, Tote neben Lebenden in dunklen stickigen Viehwaggons, voller Angst vor den Bewachern – beschreiben die letzten Kriegsereignisse als die schlimmsten ihrer gesamten Gefangenschaft. Der längste Transport mit über 2.000 Häftlingen aus dem Krankenrevier des KZ Neuengamme erreichte erst nach zehn Tagen das „Auffanglager“ – Sandbostel. 

Sandbostel – für die SS eine 
Notlösung in den letzten Kriegswochen

Die Kommandantur des Stalag X B erfuhr nach Aussage des damaligen Adjutanten Heinrich Westphal erst kurz vor Ankunft der Transporte von der Absicht der SS, in Sandbostel ein Konzentrationslager einzurichten, wogegen sie - so spätere Aussagen vor britischen Befragungen - heftig protestiert habe. Die Wehrmacht sei allein für die Bewachung von Kriegsgefangenen zuständig, nicht für die von KZ-Häftlingen, soll der Lagerkommandant Oberst Lühe argumentiert haben. 

Kurz vor Ankunft der KZ-Häftlinge sorgte die Wehrmacht für die Verlegung von 5.000 polnischen Offizieren aus dem Lagerbereich „Marlag“ und dessen Sicherung mit extra Stacheldraht. Diese Maßnahmen seien zeitlich zufällig und nicht Reaktion eines Befehls der SS gewesen, so Westphal. Weiter waren für den Transport von 700 Amerikanern aus dem Lager Limburg sämtliche Matratzen und Decken aus dem „Marlag“ geholt worden, so dass die KZ-Häftlinge bei ihrer Ankunft nur leere Baracken vorfanden. Das (un)vorbereitete „Marlag“ im Lager Sandbostel stellte für die SS-Führung eine Notlösung im Zuge der Räumungstransporte dar. 


Der französische Überlebende Pierre Fertil zeichnete Jahrzehnte nach seiner Befreiung Szenen aus dem KZ-Auffanglager © Stiftung Lager Sandbostel

Ab Anfang April 1945 trafen die Transporte von KZ-Häftlingen auf den Bahnhöfen in Bremervörde und Brillit ein. Vor den Augen der deutschen Bevölkerung schleppten sich Tausende ausgehungerte, verlauste und in gestreifte Lumpen gewickelte, oft barfüßige Männer durch die Straßen oder wurden von bewaffneten Wachmännern auf LKWs verladen. In Brillit gleich neben dem Bahnhof und in Bremervörde auf dem jüdischen Friedhof an der Höhne wurden Massengräber für Hunderte Tote ausgehoben.

Im Lager Sandbostel beobachteten hinter Stacheldraht etwa 15.000 Kriegsgefangene die Ankunft der KZ-Häftlinge. Eine kleine Lorenbahn fuhr die schwächsten Häftlinge über die Lagerstraße direkt vor das Eingangstor des „Marlags“. Einige zeigten sich völlig apathisch und gleichgültig gegen Gewalt, Elend und Tod. Andere waren wahnsinnig geworden. 

Hunger, Krankheiten und 
Tod im KZ-Auffanglager

Die SS erklärte den Lagerbereich der KZ-Häftlinge als unter ihrer Kontrolle stehend und verbot der Lagerkommandantur wie den Kriegsgefangenen, ihn zu betreten. Der Chef des französischen Widerstandskomitees, Colonel Marcel Albert, bat die Wehrmacht, den KZ-Häftlingen Essen und Trinken sowie medizinische Versorgung bereitstellen zu dürfen. Nach kurzer Zeit unterband die SS die Hilfe der Kriegsgefangenen und des deutschen Lagerarztes, Dr. Rudolf Adam. 

Über mehrere Tage hinweg öffnete niemand das Lagertor, und die Insassen des „Marlags“ blieben ohne jegliche Versorgung. Bewacht wurde das Lager von einer Gruppe von SS-Männern, Kriegsmarinesoldaten und Polizisten, die von ihren Wachtürmen aus oder von außerhalb des Stacheldrahts gelegentlich auf Häftlinge schossen. 

Pro Tag starben mehrere Hundert Menschen an Krankheiten, Schwäche und gezielten Tötungen. Ihre Leichen lagen zwischen den Lebenden und Sterbenden in den mit Kot verunreinigten Baracken oder draußen auf den Wegen. Abgestumpft vom Überlebenskampf stahlen einige Häftlinge ihnen Kleidung und Schuhe. Auch zu Formen von Leichenkannibalismus soll es gekommen sein. 


Versorgung der Häftlinge, 30.April 1945 © Imperial War Museum, London

Am 19. April wurde der Ausbruch ansteckender Krankheiten unter den KZ-Häftlingen entdeckt. Der bis dahin sich wenig für die Belange der KZ-Häftlinge einsetzende, nun aber alarmierte Lagerkommandant erwirkte daraufhin die Erlaubnis, den Lagerarzt in den KZ-Bereich schicken zu dürfen. Er sollte alle notwendigen Schritte einleiten, um eine Ausbreitung von Krankheiten auf die anderen Lagerbereiche zu verhindern. 

Am Abend desselben Tages versuchte die SS, mit den letzten „marschfähigen“ KZ-Häftlingen Sandbostel zu verlassen. Offenbar hatte sie einen Befehl vom Kommandanten des KZ Neuengamme, Max Pauli, oder direkt vom Höheren SS- und Polizeiführer im Wehrkreis X, Georg-Henning Graf von Bassewitz-Behr, bekommen, die KZ-Häftlinge wieder zurück nach Hamburg zu bringen. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Unterbringung von KZ-Häftlingen auf Schiffen in der Ostsee geplant. 

Die Häftlinge waren jedoch nicht bereit, sich auf einen weiteren „Todesmarsch“ zu begeben, und weigerten sich, das „Marlag“ zu verlassen. Mit Gewalt gelang es der SS schließlich, etwa 400 Häftlinge zusammenzutreiben und zum Bremervörder Bahnhof zu bringen. Per Zug und zu Fuß gelangten die Häftlinge nach Stadersand, wo sie auf das Schiff „Olga Siemers“ gebracht wurden. Erst am 10. Mai wurden die Häftlinge in Flensburg von britischen Truppen befreit. 

Die „Hungerrevolte“

Im „Marlag“ brach am Abend des 19. April ein Aufstand der KZ-Häftlinge aus, der von Überlebenden als „Hungerrevolte“ bezeichnet wird. Ein Fliegeralarm trieb die Wachmannschaften von ihren Posten in die Luftschutzbunker. Während in dem unbewachten Moment am hinteren Lagerzaun Häftlinge über den Stacheldraht aus dem Lager zu fliehen versuchten, stürmten andere am Eingang des „Marlags“ auf der Suche nach Essbarem die hinter dem Zaun liegende Lagerküche. Bis in die Nacht versuchten SS und Wehrmacht, der Lage Herr zu werden, und erschossen vermutlich mehrere Hundert Häftlinge. 

Am nächsten Morgen zog ein Großteil der Wachmannschaften des KZ-Bereichs aus Sandbostel ab. Angesichts der nahenden britischen Armee, der Drohung eines Aufstandes durch die Kriegsgefangenen und der Verantwortung für die katastrophale Lage der KZ-Häftlinge sahen sie sich gedrängt, ihre Uniformen zu tauschen und unterzutauchen. Auch der bisherige Lagerkommandant Oberst Lühe und ein Teil der Wehrmachtssoldaten verließen – teils auf Befehl, teils in Flucht – das Lager. 

Nachfolger in der Kommandantur wurde der bisherige Adjutant Heinrich Westphal. Der Höhere SS- und Polizeiführer von Bassewitz-Behr übertrug dem Rittmeister und SS-Hauptsturmführer Willi Michael die Leitung des KZ-Bereichs. Als Michael seinen Dienst in Sandbostel antrat, fand er keinerlei Häftlingskartei oder sonstige Informationen zu den Deportierten vor.

Die Nothilfe der Kriegsgefangenen

Mit Oberstleutnant Westphal kam es im Laufe des Vormittags am 20. April zu einer Vereinbarung zwischen dem von Colonel Albert gegründeten internationalen Kriegsgefangenenkomitee und der Wehrmacht. Westphal übergab das vollständige Lagerkommando an Albert. Auch im Stab des Höheren SS- und Polizeiführers in Hamburg wurden Pläne für die Übergabe des Lagers Sandbostel an die britische Armee diskutiert.


Ungarischer Jude, 30. April 1945 © Imperial War Museum, London

Albert organisierte sofort eine Notversorgung der KZ-Häftlinge. Es galt, etwa 8.000 noch lebende Deportierte zu versorgen. Krank und ausgemergelt und dicht gedrängt lagen sie ohne Matratzen und Decken auf den nackten Fußböden vollkommen verdreckter Baracken.

Insgesamt gewährleistete das Kriegsgefangenenkomitee die Versorgung von über 20.000 Menschen im Lager. In der Küche wurde in Schichten Tag und Nacht das wenige, was es gab, gekocht. Die ausgehungerten KZ-Häftlinge verlangten nach Essen, bei der Verteilung von Nahrungsmitteln kam es zu tumultartigen Szenen. Trotz größter Vorsicht starben KZ-Häftlinge an zu großen Mengen Nahrung. 

Ein von Albert zusammengestelltes Kommando suchte das KZ-Auffanglager nach Leichen ab. Der Gräberdienst legte bis zur Sprengung der Ostebrücke am 24. April auf dem ehemaligen Lagerfriedhof, der heutigen „Kriegsgräberstätte“ in Sandbostel, und danach im Lager mehrere Massengräber an. 

Andere Kriegsgefangene versuchten, die aus insgesamt 17 Ländern stammenden Menschen mit ihren Namen und Adressen von Angehörigen zu registrieren, ihre Verfolgungswege aufzuzeichnen und Aussagen gegen SS-Männer zu sammeln. 

Die Kriegsgefangenenärzte und die Ärzte unter den KZ-Häftlingen leiteten eine medizinische Nothilfe ein. Die Schwerkranken wurden nach einigen Tagen in Notlazaretten im ehemaligen Straflager (nahe des heutigen Augustendorf) und im Wachmannschaftenlager (heutiges Heinrichsdorf) gebracht. Aus dem Lazarett des Kriegsgefangenenlagers konnten einige wenige Medikamente bereitgestellt werden. In Gruppen wurden die geschwächten Häftlinge in die Entlausung geführt und hier gewaschen und neu eingekleidet. Den Anfang machten die 144 Kinder und Jugendlichen.

„Ein kleines Belsen“

Die Ankunft der britischen Armee wurde durch versprengte Einheiten der Division Großdeutschland, die einen erbitterten wie aussichtslosen Widerstand führten, verzögert. Als am Nachmittag des 29. April die ersten britischen Einheiten das Lager Sandbostel betraten, hatten die Kriegsgefangenen – selbst von jahrelanger Gefangenschaft gezeichnet – bereits über eine Woche Nothilfe an den KZ-Häftlingen geleistet. 

Die ersten wichtigen Vorbereitungen und Maßnahmen in der Verpflegung der Gefangenen, der Desinfektion, der Einrichtung von Krankenhäusern und der Registratur waren eingeleitet worden. Colonel Albert hatte bis zur Ankunft der britischen Armee mehrere Notruftelegramme abgeschickt und die Lage im Stalag X B geschildert. Dennoch waren die britischen Soldaten beim ersten Anblick des KZ-Auffanglagers zutiefst erschüttert. 

Die nicht bestatteten Leichen im Lager, der Dreck und der Gestank, die zu Skeletten abgemagerten Menschen ließen sie in Erinnerung an die zwei Wochen zuvor erfolgte Befreiung des KZ Bergen-Belsen Sandbostel als „ein kleines Belsen“ bezeichnen. 

Colonel Albert zählte am Tag der Befreiung 7.345 noch lebende KZ-Häftlinge. Mehr als 2.000 Menschen waren in den zweieinhalb Wochen, die das KZ-Auffanglager Sandbostel bestand, gestorben. Die Zahl derjenigen, die auf dem Transport von Neuengamme nach Sandbostel irgendwo nahe den Gleisen, an Bahnhöfen oder auf Friedhöfen verscharrt wurden, beträgt mehrere Hunderte.

Die Überlebenden wurden in den nächsten Tagen in Krankenhäuser in Sandbostel, Rotenburg-Unterstedt, Bassum, Sulingen und Neuenkirchen gebracht. Weitere Hunderte von ihnen starben in den ersten Wochen nach der Befreiung. Die Gesamtzahl der auf den Transporten, im KZ-Auffanglager sowie nach der Befreiung Verstorbenen ist mit ca. 3.000 Menschen nur zu schätzen. 

Einige von ihnen wurden in den vergangenen Jahrzehnten exhumiert und in ihre Heimatländer gebracht, die meisten jedoch liegen bis heute in anonymen Gräbern auf Gemeindefriedhöfen.

Dörthe Engels ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung Lager Sandbostel. Ihre Forschungsschwerpunkte bei der Neukonzeption der Dauerausstellung in der Gedenkstätte sind das Alltagsleben im Stalag X B, die Kriegsgefangenen aus westlichen Ländern und das KZ-Auffanglager. 
 


Veranstaltungen im April 2012

17. April 2012, 19 Uhr

Vortrag: „Das KZ-Auffanglager
Sandbostel im April 1945“
Dörthe Engels, wissenschaftliche Mitarbeiterin
der Stiftung Lager Sandbostel
Gedenkstätte Lager Sandbostel, Greftstraße 3,
27446 Sandbostel („Gelbe Baracke“)
Eintritt frei

29. April 2012, 16 Uhr

Gedenkfeier anlässlich des 67. Jahrestags
der Befreiung des Lagers Sandbostel

16 Uhr
ökumenisches Totengebet und Kranzniederlegung auf dem
ehemaligen Lagerfriedhof/Kriegsgräberstätte
Sandbostel, Bevener Straße, 27446 Sandbostel
17.30 Uhr
zentrale Gedenkveranstaltung
in der ehemaligen Lagerküche
auf dem Gelände der Gedenkstätte Lager
Sandbostel, Greftsstr. 3, 27446 Sandbostel
19 Uhr
Gedenkgottesdienst in der „Lagerkirche“,
Greftstraße, gegenüber der „Lagerküche“


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