"Im Ärmel ein schwarzes As"
Das späte Bekenntnis des Moralisten Günter Grass zu seinem Einsatz als Waffen-SS-Mann --- Nächtelang hatte der Nobelpreisträger dem Journalisten Details aus seinem Leben erzählt - bis hin zu seiner schrulligen Vorliebe für alte Reiseschreibmaschinen vom Typ Olivetti Lettera - seiner "mechanischen Muse", der er seit Jahrzehnten die Treue halte. Dass er einst als 17-Jähriger der Waffen-SS angehört hat - das indes verschwieg Günter Grass auch seinem Biografen Michael Jürgs. Als am 12. August, durch einen Vorabdruck der "Frankfurter Allgemeinen" aus der neuen Grass-Autobiografie "Beim Häuten der Zwiebel", die Spitzennachricht des Literaturjahres publik wird, ist Jürgs natürlich "enttäuscht": In seinem gerade erschienenen Buch "Bürger Grass" tritt der junge Waffen-SS-Mann lediglich als Luftwaffenhelfer auf - so wie sich der 78-jährige selber sechs Jahrzehnte lang der Öffentlichkeit präsentiert hatte. In dieser Situation kommt Grass-Kenner Jürgs, von einem Interviewer zu seinem Protagonisten befragt, auf die Olivetti des Großschriftstellers zu sprechen. Müsse sich Grass nicht jedesmal an die Waffen-SS-Zeit erinnert haben, wenn er "ein Doppel-S, ein SS" in die Tasten gehämmert habe? Oder, so Jürgs, "wenn er das Wort Waffen geschrieben" hat oder wenn er, wie in der "Blechtrommel", schildert, dass SS-Männer in Danzig "die Post niederbrennen und die Leute ermorden"? Fassungslos reagieren Autoren und Kommentatoren in aller Welt auf das späte Bekenntnis des linken Moralapostels Grass, über Jahrzehnte verschwiegen zu haben, dass er nach der Ablehnung einer freiwilligen Meldung zur Marine in den letzten Kriegsmonaten in die Waffen-SS eingezogen worden ist - die für den fanatisierten Knaben damals, so Grass, "zunächst einmal nichts Abschreckendes, sondern eine Eliteeinheit" gewesen sei. Der britische Schriftsteller John Le Carré bezichtigt den deutschen Kollegen, der stets die NS-Vergangenheit von Politikern wie Hans-Georg Kiesinger (CDU) bis Karl Schiller (SPD) unerbittlich angeprangert hat, der "Heuchelei". Literaturkritiker Helmut Karasek wirft Grass vor, sich durch seine Unaufrichtigkeit den Nobelpreis "erschlichen" zu haben. Und Charlotte Knobloch, die Präsidentin des Zentralrats der Juden, wirft dem steten Mahner vor einer Wiederkehr des Bösen vor, mit dem Verschweigen seiner Vergangenheit alle "seine früheren Reden ad absurdum" geführt zu haben. Während in Polen noch über die Aberkennung der Danziger Ehrenbürgerrechte für Grass diskutiert wird und sich in Internet-Foren Spott über den Dichter ergießt ("Gestatten, mein Name ist Grass, mit SS"), überwiegt bei manch einem schon bald das Mitgefühl mit dem Gescholtenen die Schadenfreude. Ex-Generalbundesanwalt Alexander von Stahl fällt zur Causa Grass zwar der "alte Achtundsechziger-Spruch" ein: "Die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche." Doch auch wenn die "bigotte und überhebliche Linkslastigkeit" des Schriftstellers ihn früher "oft genervt" habe, dürften die "Vernünftigen im Lande" nicht zulassen, dass Ultraorthodoxe ihn nun ächten und ausgrenzen, fordert der Rechtsliberale und gibt die Parole "Tiefer hängen" aus. Natürlich springen dem langjährigen SPD-Wahlhelfer Grass auch prominente Sozialdemokraten bei. Der Fehler, so lange geschwiegen zu haben, sei "korrigiert" worden, wenn auch "sehr spät", gibt Ex-Minister Otto Schily zu bedenken. Und: "Auch ein großer Mann macht Fehler. Lassen wir es dabei bewenden." Aus dem Ausland dringen nach der ersten Welle der Empörung zunehmend auch andere Stimmen. "Grass bleibt für mich ein Held - als Schriftsteller und als moralischer Kompaß", meldet sich US-Kollege John Irving zu Wort. Der polnische Autor Stefan Chwin zeigt zwar Verständnis für die Reaktion seiner Landsleute auf die Selbstenthüllung, pocht aber auf das Recht von Künstlern, ihre Biografie frei zu formen. "Wahre Literatur spielt mit der Wahrheit und der Moral, wie man mit dem Feuer spielt," schreibt Chwin: "Ein echter Schriftsteller trägt ein Leben lang in seinem Ärmel ein schwarzes As, das er niemals auf den Tisch werfen wird. Die Kunst speist sich aus dem Geheimnis." Dieses Recht nahm wohl auch Grass, der selber "lebenslang Geschichten mit unterschiedlichem Wahrheitsgehalt" zu erzählen wußte, für sich auch dann noch in Anspruch, wenn er über seine Jugend im Hitlerreich schrieb - wie üblich "immer noch eine Fassung und noch eine, die erste per Hand, die nächsten auf meiner Olivetti". Gerade dieser "spielerische Umgang mit der Wahrheit" zeichne den Dichter aus, urteilte 2002 bei der Eröffnung des Lübecker Günter-Grass-Hauses der Leiter der dortigen Kulturstiftung, Hans Wißkirchen. Dass der "Kontakt zur Wirklichkeit" auf diese Weise "einen ganz eigenen Charakter" gewinne, belegte der Festredner mit einem Grass-Gedicht, das er in einer Veröffentlichung aus dem Jahre 1998 gefunden hatte: Meine alte Olivetti
Als Grass seinen autobiografischen Roman Anfang September erstmals öffentlich vorstellt, hat er sein Publikum weitgehend wieder für sich gewonnen. Bei der Buchpremiere in Berlin hält nur ein kleines Grüppchen Demonstranten ein Transparent mit brauner Zwiebel und SS-Helm empor. Dass auch der Moralist Grass, der anderen immer wieder deren Schweigen über die NS-Zeit anlastete, selber zu den "Wahrheitströpflern" zählt, wie der Historiker Michael Wolffsohn schrieb, und an der "eitel zelebrierten Geschwätzigkeit" ("FAZ") des Literaturstars scheinen sich gegen Ende des Abends noch ein paar Feuilletonisten zu stören, denen er vorwirft, seinen Fall "unter ihrem Niveau" behandelt zu haben. Auf die Lesung der Waffen-SS-Passage, die so viel Furore gemacht hat, verzichtet der Dichter. Statt dessen erfreut "unser schönster Moraletti" ("Stern"-Autorin Gerda Maria Schönfeld) das geneigte Publikum am Ende mit einer Liebeserklärung an seine Olivetti: "Bis heutzutage bin ich ihr hörig. Stets wußte sie mehr, als ich von mir wissen wollte." Und: "Nicht enden will unser Zwiegespräch. Ihr zu beichten bin ich katholisch genug." Jochen Bölsche
|