Die
Schwebefähre in Osten
Wer von der Niederelbe durch das Kehdinger Land nach Westen fährt, gelangt früher oder später an die Oste, einen einhundertfünfzig Kilometer langen Niederungsfluß des nordwestdeutschen Küstenlandes. Von der moorigen Geest zwischen Bremen und Hamburg herankommend, schlägt das windungsreiche Gewässer schon bald eine nördliche Richtung ein. Bis es bei Neuhaus, westlich von Cuxhaven, als letzter Zufluß die Elbe erreicht, bildet es eine natürliche Barriere fur allen Verkehr zwischen dem linken Niederelbegebiet und der Küste. Die nicht eben aufregende Silhouette der Kehdinger und Hadelner Marsch wird bei dem Städtchen Osten durch ein weithin sichtbares eisernes Portalwerk markiert, hoch und über die Bäume der Umgebung hinausragend. Der Ortsunkundige mag von weitem bei flüchtigem Hinsehen vielleicht an die Helling einer Werft denken, muß man in dieser küstennahen Gegend irgendwie doch immer mit einem Gewässer rechnen. Die Sache klärt sich erst vor Ort, beim Ostener Fährkrug am Ostedeich. Die Gitterkonstruktion ist das Traggerüst der ehemaligen Schwebefähre - bauamtlich "Schwebebahn" - uber den Fluß, wie es heißt der einzigen ihrer Art in Deutschland. Sie ist zum Wahrzeichen der Stadt Osten geworden. Den Turm ihrer ehrwürdigen St.-Petri-Kirche im Weichbild des Ortes drängt sie beinahe in den Hintergrund. Als man um die Jahrhundertwende überlegte, für den gestiegenen Verkehr zwischen den sich an der Oste gegenüberliegenden Orten Basbeck (heute: Hemmoor-Basbeck) und Osten an Stelle des privaten Fährbootbetriebs eine feste Brücke zu bauen, kam man schließlich zur Lösung einer Schwebefähre, einer an einem flußüberspannenden Traggerüst bewegten Übersetzplattform. Nach mehrjährigen Vorarbeiten begann man im Herbst 1908 mit dem Bau der Anlage, die man bereits im Oktober des folgenden Jahres in Betrieb nehmen konnte. Gebaut hat sie die "Vereinigte Maschinenfabrik Augsburg und Maschinengesellschaft Nürnberg AG" (M-A-N), Werk Gustavsburg. Die elektrische Ausrüstung kam von der AEG Berlin. Je zwei auf beiden Ufern mit den Innengurten gegeneinander geneigte Stützpfeiler, die auf Betonfundamenten ruhen, bilden mit der von ihnen getragenen horizontalen Eisenfachwerkkonstruktion über dem Fluß das Tragwerk für die Fähre. An ihm ist die Fährgondel, gleichfalls in räumlichem Eisenfachwerk ausgeführt, starr angehängt. Mit ihrem Fahrwerk, einem vierrädrigen, beiderseits von je einem Elektromotor angetriebenen eisernen "Wagen", läuft die Gondel oben an den horizontalen Hauptträgern auf Schienen, ganze 0,4 Meter pro Sekunde schnell, bei ungünstigem Wind jedoch langsamer. Mit dieser "Geschwindigkeit" schwebt die Fahrplattform je nach Wasserstand in unterschiedlicher Höhe über dem Fluß. In rund drei Minuten werden die achtzig Meter von Ufer zu Ufer bewältigt. Bei Stromausfall während der Fahrt kann sie von Hand ans Ufer gebracht werden. Mit der beachtlichen Durchfahrthöhe
von 27 Metern entsprach die windexponierte und materialaufwendige Konstruktion
der Forderung nach einem ungehinderten Passieren selbst voll bemasteter
Seeschiffe. Ein oder zwei Jahrzehnte später wäre eine derartige
Portalhöhe wohl kaum noch realisiert worden. Trotz der auf hohe Knicksicherheit
ausgelegten Portalelemente wirkt die Konstruktion eher grazil. Mit ihren
unscheinbaren Uferrampen kann die Anlage im Vergleich zu manchen Verkehrsbauten
unserer Tage fast schon als landschaftsschonend gelten.
Bald nach dem Ruhestand der Fähre kam der Gedanke auf, das für das Ortsbild von Osten so markante Bauwerk zu erhalten. Nachdem der ehemalige Landkreis Hadeln die Anlage aufgrund einer Expertise des zuständigen Landeskonservators als technisches Baudenkmal unter Bestandsschutz gestellt und Träger der musealen Fähre geworden war, ging man an eine gründliche Überholung und Konservierung von Traggerüst und Fahrwerk. Ortliche wie staatliche Stellen und ein privater Förderkreis hatten sich engagiert. 1984 konnte man den 75. Jahrestag der Inbetriebnahme bei gutem Zustand der Fähre begehen, die man fortan als Touristenattraktion nicht nur zum bloßen Anschauen darbieten will, sondern auch zum probeweisen Schweben über den Wassern. Für eine Mark pro Person kommt man ans andere Ufer und wieder zurück, quasi auf Bestellung. Wem das zu windig oder sonstwie nicht recht geheuer ist, der kann das Fährspektakel auch angenehmer erleben - bei Bier und Branntwein vom Fenster des Fährkrugs aus, gleich neben dem Anleger auf dem Osteufer. HERIBERT RISSEL
Aus der FAZ, Dezember 1987
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