Von Emanuel Eckardt
Westlich von Hamburg, jenseits der Elbe, weit draußen hinterm Deich und gut dreißig Zentimeter unter Normal Null siedelt auf schwerem Boden ein erdverbundener und wetterfester Menschenschlag, angetan mit Öljacke und Gummistiefeln. Mal ist er auf den Bäumen zu finden, mal auf sauren Wiesen, mal im dicken Morast. Diese kernigen Leute, die es selbst bei Schietwetter mit glücklichen roten Gesichtern nach draußen treibt, sind Journalisten, Kameraleute und Fotografen, Werbeleute und Künstler von Rang. Nur: Was treibt Hamburgs Medienszene ausgerechnet ins Kehdinger Land?
Brägenklüterig könnte man werden in dieser tropfnassen Welt aus Nebelbänken und moorigem Bruchwald. Kahle Obstbäume stehen in Reihe wie verkrüppelte Kreuze auf einem Heldenfriedhof, die Häuser sind schief und krumm, die Gräben schnurgerade, und nur die Ortsschilder bringen etwas Farbe in diesen verregneten Wintertag. Man muß sie laut lesen, diese Namen: Himmelpforten und Engelschoff, das läßt hoffen auf eine bessere Welt, Bützfleth, Hüll und Oederquart, das kann passieren in der norddeutschen Tiefebene, aber Düdenbüttel, Hünkenbüttel und Kükenbüttel, wo gibt es denn so was? Diese Orte gibt es im Land Kehdingen, hinter Stade, zwischen Schwinge und Oste, und weiter elbabwärts, im Land HadeIn, wo die Elbmarschen platt wie eine Pizza im Wind liegen und im Sommer schwarzbuntes Rindvieh auf sauren Wiesen steht.
Hier fühlen sie sich wohl, Hamburgs hochbezahlte Medienleute, unter Reetdächern und Apfelbäumen, am grünen Saum der Republik. Westliches Mostdeutschland, Welt der Marsch, Marsch der Welt. Was macht den Charme dieser Küstenlandschaft aus? Der als Schrott-Reaktor berüchtigte Atommeiler von Stade, der das unwirklich anmutende Lichtermeer von Dow Chemical und der Vereinigten Aluminiumwerke strahlen laßt? Da müssen sie vorbei, dahinter liegt ihr plattdeutsches Arkadien, da hausen sie im Modergrund, die Macher und die Stars der Hamburger Medien.
Die telefonische Recherche eines Tages ergibt eine zwar unvollständige, aber deshalb doch erstaunliche Anwesenheitsliste für das Flachland beiderseits der Oste: Drei Blattmacher, einer vom Jahreszeiten-Verlag und zwei von Gruner + Jahr, ein TV-Magazin-Macher (der sich allerdings auf dem Geestrücken seitwärts in die Büsche schlägt), ein stellvertretender Chefredakteur, ein "Spiegel"-Redakteur, zwei freie Journalistinnen, eine "Brigitte"-Autorin, ein "stern" -Nachrichtenredakteur, ein "stern"-Grafiker, ein "stern"-Reporter, zwei "stern"-Sekretärinnen, zwei Hörfunkautoren, zwei Drehbuchautoren, zwei Kochbuchautoren, zwei Fernsehfilmemacher (ein ZDF-Mensch und ein NDR-Mann), ein Kameramann, drei Fotografen, ein Grafikdesigner aus München, vormals Art-Director der "Quick", zwei Kunstprofessoren (Düsseldorf und Dortmund) und zwei Malerinnen (davon eine allerdings naiv und nur im Nebenberuf), ein Werbefilmunternehmer, fünf Schauspielerinnen, ein Schauspieler, ein Theaterintendant, ein Komponist (mit Luftbefeuchter, damit der Konzertflügel keinen Schaden nimmt) und ein international renommierter Opernsänger, der als Baß durch die Welt schwebt.
Was trieb sie nur aus ihren weiträumigen Eppendorfer, Uhlenhorster oder Harvestehuder Zimmerfluchten mit den kronleuchtertauglichen hohen Stuckdecken ins Moorland hinterm Deich, das vom urbanen Lifestyle so weit entfernt ist wie Champagner von Lütt und Lütt? Was suchen sie im niederdeutschen Zweiständer-Haus, Typ Kehdinger Land, unter mausgrauen Reetdächern, Typ Krüppelwalm? Warum verwandeln sie einfache Bauernkaten in Wohnhöhlen fürs Wochenende mit Schreibstube für Laptop, Fax und Funkie?
Was für eine Welt! Die Straßen schwingen sich in wechselvollen Wellenbewegungen durch die Baumreihen, das liegt am Moor, schwankender Grund, vollgesogen mit Wasser, der in trockenen Sommern zusammensackt. Als die Moore gepoldert wurden, lernte manches Bauernhaus den Hofknicks, Außenwände sackten ab, Scheunen fielen in sich zusammen. Wer so ein Haus erwirbt, zieht in ein Faß ohne Boden. Es gibt immer etwas zu renovieren, aufzurichten und zu stützen, neu zu dichten, neu zu decken. Was die Erbauer dieser Reetdachhäuser im Sinn hatten, war zuallerletzt Wohnkultur. Gewohnt wurde im Kammerfach, im bescheiden dimensionierten Hinterteil des Gebäudes unter niedrigen Deckenbohlen. Ein Mannsbild, das erhobenen Hauptes durch die Tür wollte, mußte schon ein Dickschädel sein, denn da war immer ein Eichenbalken im Weg. In den Kübbungen, den Abseiten außerhalb der Ständerreihe, die das Dach trug, lag das Stroh und wärmte den Bau. Seitlich waren auch die Stallungen angeordnet. Man sieht es an alten Reetdächern. Wo sie faulen und die Wände in sich zusammensinken, standen die Tiere. Die Urindämpfe stiegen ins Reet und in die Mauern. Viele der Häuser hatten Fundamente aus lehmbeschichteten Steinen, die zogen das Wasser an. Im Winter glitzerten Innenwände und Balken vom Frost.
Und im Winter kam es auch schon mal vor, daß ein Deich brach. Zuletzt bei der Sturmflut 1976: Da lief das Wasser bis Hüll. Nur zu gern haben sich manche Bauern von ihren alten Höfen getrennt. Sie haben die Häuser plattgeschoben oder verkauft, sind in Bungalows gezogen, mit Panoramafenster und Weitblick auf die Wiese. Mit ihren Kachelöfen haben sie die Gräben aufgefüllt, bis sie erkannten, daß die verrückten Hamburger für so'n Plünnkram gutes Geld bezahlten.
Die Medienleute kamen als leidenschaftliche Denkmalschützer, sie steckten Abfindungen, Tantiemen oder andere Ersparnisse in die windschiefen Reethaufen, solange sie noch einem Fachwerkhaus ähnelten, und verwandelten sie in Liebhaberstücke, betrieben den Umbau fachgerecht mit Hinterlüftung und Dampfsperre und lernten von ihren Baumeistern, was Feuchtwanderung durch die Außenwand bedeutet. Das Beste war gerade gut genug, und deshalb mußte ein neues Reetdach her und massive Vollziegel im Hamburger Format.
Sie legten neue Fundamente unter den Bau (was bei Fachwerkhäusern möglich ist), renovierten das gesteckte Fachwerk mit Schlitz und Zapfen und Holznägeln, wie es sich gehört. Und wenn man sie fragt, warum sie ausgerechnet hier draußen in diesem spröden Milieu ihr zweites Leben beginnen und nicht auf Sylt oder im lieblichen Hügelland der Holsteinischen Schweiz, dann kommt die Antwort geradeheraus wie ein Stichkanal: Hier war der Boden noch billig zu haben, die Häuser kosteten nicht viel, denn das Land Kehdingen ist zu weit von Hamburg entfernt, um für Tagespendler noch attraktiv zu sein. Der "Köm-Schnellweg" führt durch das Moor nach Stade. Es gibt nur drei Kurven, die hat man im Blut (den Köm manchmal auch). Aber dann ist es noch eine Stunde Fahrt durch die Obstmarschen des Alten Landes und durch den Elbtunnel. Und außerdem hast du hier dieses Naturerlebnis.
"Hier draußen sind die Nächte noch dunkel", sagt Jochen Wegener, Rundfunkautor und freier Journalist. ,,Bei Neumond siehst du die Hand nicht vor Augen." Einmal kam er vom Kurs ab auf eigenem Grund, ist rabbeldikatz in die Wettern reingefallen. Wettern heißen die Gräben, die schnurgerade durch die Moore ziehen. Wer hier draußen wohnt, ist Zwangsmitglied des Deich- und Schleusenverbandes und zahlt seinen Beitrag für die ,,Wettetrischau", zweimal im Jahr werden die Be- und Entwässerungskanäle überprüft und auf Vordermann gebracht. Sie würden ja auch selbst Hand anlegen. Journalismus ist oft Arbeit im Morast, aber diesen Job müssen sie Fachleuten überlassen. Dafür steigen sie in die Apfelbäume, schneiden die Wassertriebe raus, damit die Äpfel saftig werden.
Harte Schädel kriegt man hier unter den Bäumen, ein trockener Sommer bringt viele Abwürfe. Jürgen Petschull, "stern"-Reporter und erfolgreicher Buchautor ("Der Herbst der Amateure"), baut wieder mal sein Haus um. Es kriegt ein Ochsenauge im Giebel, so heißt das halbrunde Fenster zum Überndeichkieken. Petschull schreibt gern in seinem Reetdachhaus, "alles über zehn Blatt", und weil er beim Schreiben, wie er weiß, unerträglich ist, läßt er Frau und Kind in Hamburg und ernährt sich von Drei-Minuten-Suppen aus der Mikrowelle. Es ist ihm ein Vergnügen, durch die Sprossenfenster auf die verwilderte Hecke zu gucken und über New York zu schreiben. Wenn er in der richtigen Stimmung ist, schmeißt er den Kamin an, schiebt einen Tontopf ins Feuer und freut sich auf das Buchenholzaroma in den Moorkartoffeln.
Manchmal trifft er sich mit seinen Kollegen im "Dammhof". Die gemütliche Kneipe liegt an der Oste, die hier eine Riesen-S-Kurve beschreibt, wie eine Wolga für Anfänger, sagt der weitgereiste Reporter. Privat kommt er gut ohne Ozean zurecht. Er hat einen Teich ausbaggern lassen und sieben kleine Moderlieschen ausgesetzt. Fische, die sogar unter Naturschutz stehen. Jetzt sind es ungefähr siebzigtausend, er ist noch nicht dazu gekommen, sie nachzuzählen, aber er schaut ihnen gern zu, den silbernen Blitzen, die abends aus dem Wasser schießen, wenn die Mücken darüber tanzen. In seinem Garten gibt es eine Nachtigall, einen sehr großen Osterhasen, und neulich kam ihm ein leibhaftiger Gartenschlauch entgegen, eine Ringelnatter. Mal was ganz anderes, so eine echte Naturschlange, die nicht aus Autos besteht.
Fee Zschocke, "Brigitte"-Autorin, kocht gern Beeren ein, macht Marmelade und Apfelsaft, 380 Flaschen in diesem Jahr, "da hab' ich die Sonne drin gefangen". Jonathan, ihr kleiner Sohn, sucht im schwarzen Schlick nach Regenwürmern, und sie sammelt Schafsködel am Deich, um damit ihren Garten zu düngen. Wenn der Deichgraf kommt, muß der Deich anständig aussehen. Er prüft die Küstenschutzanlagen ohne Ansehen der Person, die dahinter wohnt, und die für ihr Teilstück geradestehen muß.
Klaus Liedtke, Top-Journalist im Hamburger Gruner + Jahr-Verlag, ist das nur zu bewußt. Der Ex-"stern"-Chefredakteur lebt auch hinterm Ostedeich in verantwortlicher Position. Hier wird der Blattmacher zum Plattmacher, mit schwerem Spaten schlägt er auf Maulwurfshügel ein. Das hier draußen, sagt er, gibt ihm Kraft für das tägliche "Rattenrennen" in der Branche. Das eine macht das andere erträglich. Nur zu gern tauscht er den Dienstwagen mit Aufsitzmäher und Ruderboot, das Apple-Powerbook gegen die Äppel-Power der 70 kleinstämmigen Obstbäume in seinem Garten, da recherchiert der Vollblutreporter im Untergrund seines Ackerlandes nach der festkochenden Sieglinde, wühlt nach der rundlichen Grata und holt die dicke Hansa aus dem schwarzen Boden. Hier draußen ist er eigen, der Fachwerk-Klaus. Er macht eigenen Apfelsaft in der eigenen Hofmosterei, ungespritzt und naturtrüb, Apfelsaft, der den eigenen Kindern schon längst zu den Ohren herauskommt. Und die Sonntagszeitung holt er sich mit dem Ruderboot.
Die Grundbedürfnisse zugereister Weltstadtbewohner ändern sich schnell. Es ist nicht weit zum nächsten Metzger oder zur Bäckerei. Wenn Sebastian Knauer, Redakteur beim ,,Spiegel", den ganz ausgefallenen französischen Käse haben will, bringt er ihn aus Hamburg mit, vom Wein hat er sich losgesagt hier draußen, denn einen Weinkeller kann man vergessen. Im Moor gibt es keine Keller, die stünden sofort unter Wasser. Also machen sie in ihren alten Hofmostereien einen neuen Trend. "Hier ist das neue Cidre-Gebiet", lacht der "Spiegel"-Mensch.
Eine andere Welt. Kaum einer hat sich so eingelebt wie der Fotograf Mike Bässler, der hier draußen zum Baumeister geworden ist, zum Maurer und Zimmermann, zum Dachdecker und Klempner. Nur mit dem Holzhacken hat er Probleme, das Kreuz macht ihm Kummer, ein typisches Berufsleiden aller Fotografen, die schwere Ausrüstung schleppen müssen. Deshalb baut er sich einen hydraulischen Holzspalter, für den Antrieb nimmt er einen alten Trecker, den er im Stallgebäude stehen hat.
Erwin Brunner, stellvertretender Chefredakteur von "Merian", ist noch neu hier. Er hat eine alte Bauernkate erworben, dreitausend Quadratmeter Land mit alten Bäumen. Brunner nennt sich ein "Bauernkind aus Südtirol". Er kommt aus den Dolomiten. Dieser Gegensatz, das Karge, das Strenge dieser Landschaft hier reizt ihn. "Wir hatten eine herrliche Kindheit auf dem Land, das möchte ich meinen beiden Kindern auch ermöglichen. Deshalb fahren wir am Wochenende aus der Stadt hier heraus."
Ob er irgendwann einmal Telefon und gar Fax legen läßt, weiß
er noch nicht. Er möchte erst einmal das Haus kennenlernen. Er freut
sich schon aufs Wochenende in dieser tropfnassen Welt aus Nebelbänken
undmoorigem Bruchwald. Das Wort "brägenklüterig" kennt er noch
nicht.