"So muss die Hölle aussehen"
Adolf Hitler ließ Coventry "coventrieren", Winston Churchill im Gegenzug Hamburg "hamburgisieren": Zum 60. Mal jährt sich im Sommer die Wende im Luftkrieg der Alliierten gegen die deutsche Zivilbevölkerung. Die Flächenbombardierung forderte mehr als 600 000 Tote, darunter fast 80 000 Kinder - Thema einer neuen SPIEGEL-Serie.
Die Augenzeugin sah "ein furchtbares Glutmeer wallen", angefacht von
Höllenkräften: "Von dem Sturm, der durch das Feuer erzeugt
wird, kann sich keiner eine Vorstellung machen, der es nicht erlebt
hat." Der Feuersturm fraß ganze Stadtviertel.
Auch St. Nikolai, Hamburgs stolzestes Gotteshaus, wurde von "dunkelroter
Glut" verzehrt. "Hoch und schwarz, wie ein großer Märtyrer,
stand der Turm da, drei Stunden lang von den Flammen umschlungen",
beschrieb die Hamburgerin Elise Averdieck die Schrecken des
Großen Brandes, der die Hafenstadt heimsuchte - einst im Mai,
Anno 1842.
Beim Wiederaufbau ihrer Hauptkirche suchten die anglophilen Hanseaten
die Hilfe eines berühmten Engländers. Nach den Plänen des
Architekten Sir George Gilbert Scott wurde die Hamburger Nikolaikirche
im neugotischen Stil errichtet, mächtiger und prächtiger denn
je,
ein stummer Zeuge hanseatisch-britischer Verbundenheit.
100 Jahre nach dem Großen Brand, auf den Monat genau, bezeugte
abermals ein Engländer Interesse an St. Nikolai: Londons bulliger
Luftmarschall Arthur Harris, der als "Bomber-Harris" in die Kriegsgeschichte
einging und den selbst die eigene Gefolgschaft "butcher"
(Schlächter) nannte, hatte der Hamburger Schicksalskirche eine
Schlüsselrolle zugedacht im Bombenkrieg, mit dem die Alliierten die
deutschen Aggressoren zu bezwingen trachteten.
Harris plante, in Hamburg einen Feuersturm zu entfachen, dessen Zerstörungskraft
die des Brandes von 1842 um ein Vielfaches
übertraf. Im Mai 1942 wollte der Marschall mehr als tausend britische
Flieger den Kirchturm von St. Nikolai ansteuern lassen, das
höchste Bauwerk der Stadt. Über der Landmarke sollte sich
die Luftarmada breit auffächern und Hitler-Deutschlands zweitgrößte
Stadt
mit Tausenden Tonnen Brand- und Sprengbomben in Schutt und Asche legen.
Wegen schlechten Wetters musste Harris die Einäscherung Hamburgs
verschieben - auf den Sommer des folgenden Jahres. Ende
Juli/Anfang August 1943 entfachte seine "Operation Gomorrha" in der
Hansestadt auf einem Areal von 20 Quadratkilometern einen
Feuersturm von apokalyptischem Ausmaß: Mehr als 40 000 Menschen
verbrannten oder erstickten, viele unter unsäglichen Qualen.
Als der britische Bomberpilot Richard Mayce hinabblickte, sah er "etwas Unbeschreibliches": "eine Art 'Dantes Inferno', eine weite Fläche voller Weißglut - sogar das Wasser brannte". Mayce: "Genau so muss die Hölle aussehen, wie wir Christen sie uns vorstellen. In dieser Nacht wurde ich Pazifist."
Aus der ruinierten Stadt ragte abermals, "hoch und schwarz" wie schon hundert Jahre zuvor, der Turm der ausgebrannten Kirche St. Nikolai empor: ein Mahnmal, das seine Symbolkraft seither bewahrt hat - und das sie wohl bald neu entfalten wird.
Die zur Gedenkstätte umgewidmete Kirchenruine steht in diesem Jahr im Zeichen des Gedenkens an die 60. Wiederkehr des Hamburger Schreckenssommers von 1943 - ein politisch delikates Unterfangen in einem Jahr, in dem die angloamerikanischen Alliierten von einst die widerstrebenden Nachfahren der deutschen Bombenopfer für Bombenkriege gegen so genannte Schurkenstaaten gewinnen wollen.
Vor dem Hintergrund der Debatte über eine deutsche Kriegsbeteiligung
könnte sich das Bombardierungsgedenken rasch zum Politikum
auswachsen - und das nicht nur in der Hansestadt. Denn der 60. Jahrestag
mörderischer Verheerungen steht in den kommenden
Jahren, bis zum April 2005, in nicht weniger als 161 deutschen Städten
an. Brand- und Sprengbomben fielen auf nahezu jede Stadt mit
über 50 000 Einwohnern, dazu auf 850 kleinere Orte.
In den Gedenkfeiern und den Gedenkartikeln der Tageszeitungen wird vom
Sommer an die Erinnerung wach werden an die rund 600
000 Zivilpersonen, darunter fast 80 000 Kinder, die bei alliierten
Bombenangriffen umgekommen sind. Je näher das Kriegsende rückte,
desto zweifelhafter waren in aller Regel der strategische Nutzen und
die völkerrechtliche Legitimität der Städtebombardierung.
Einen
Vorgeschmack von den aufkeimenden Debatten lieferte jüngst das
britische Echo auf das Buch "Der Brand", in dem der deutsche
Privatgelehrte Jörg Friedrich, 58, den einschlägigen Forschungsstand
zusammengefasst hat.
Die Alliierten, so seine These, hätten mit Bombenteppichen und systematisch gelegten Feuersbrünsten den Tod von Zivilisten nicht nur in Kauf genommen, sondern gezielt verursacht. Mit Luftmassakern, offiziell "moral bombing" genannt, sollten die Massen demoralisiert und am Ende Volksaufstände gegen Hitler ausgelöst werden.
"Die Deutschen nennen Churchill einen Kriegsverbrecher", schlagzeilte
der Londoner "Daily Telegraph"
- zu Unrecht. Denn Friedrich, bekannt geworden als seriöser Holocaust-Forscher,
hatte bewusst
vermieden, den Kriegspremier Winston Churchill als Kriminellen hinzustellen:
"Ein Kriegsverbrechen?
Das muss jeder für sich selbst entscheiden." Englischen Reportern
gegenüber mochte sich Friedrich
allerdings die Bemerkung nicht verkneifen, Churchill könne "schon
deshalb kein Kriegsverbrecher im
juristischen Sinne sein, weil Sieger, auch wenn sie Kriegsverbrechen
begangen haben, nicht dafür
angeklagt werden".
Das Misstrauen, mit dem die Briten solche Stimmen verfolgen, ist nachvollziehbar.
Auch deutsche
Historiker raten dazu, nicht den Rahmen zu übersehen: den "totalen
Krieg", den Deutsche schon in
den dreißiger Jahren konzipiert hatten. Die Debatte, so notwendig
sie sei, dürfe nicht zu einem "Opferkult" führen, urteilt etwa
der
Historiker Hans-Ulrich Wehler im SPIEGEL-Gespräch.
Ob ein Krieg gegen den Terror auch mit Terrorangriffen geführt
werden darf; unter welchen Umständen es statthaft sein könnte,
Frauen, Greise und Kinder in Flammen aufgehen zu lassen; wann so genannte
Kollateralschäden als Kriegsverbrechen gelten müssen -
der Rückblick auf die Bombenangriffe von 1943 wirft ganz ähnliche
Fragen auf wie die Debatte über US-Kriegspläne oder die russische
Bombardierung der tschetschenischen Hauptstadt Grosny.
Schon haben sich Vertreter der deutschen Friedensbewegung, um die es
vorübergehend recht still geworden war, des Themas
bemächtigt. In einem Appell an Bundeskanzler Gerhard Schröder,
Bushs Kriegspläne nicht zu unterstützen, argumentierte der
Ex-DDR-Bürgerrechtler Wolfgang Ullmann, 73, wer wie er 1945 "die
Bombardierung der nahezu vollkommen wehrlosen Bevölkerung von
Dresden miterlebt hat", sei "für immer davon überzeugt",
dass es "keinen denkbaren Legitimationsgrund für diese Art von
Waffengebrauch geben kann".
Tilman Zülch, 63, Leiter der Gesellschaft für bedrohte Völker,
wiederum fordert mehr Druck auf Moskau, dessen Bombenkriegsführung
in Tschetschenien mit den alliierten Terrorangriffen auf Deutschland
vergleichbar sei. Zülch: "Grosny heute sieht aus wie Dresden
1945."
So könnte die Wechselwirkung zwischen der Debatte über die
Kriege der Gegenwart und der bis 2005 anstehenden Kette von
Gedenktagen in der Bundesrepublik erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg
ein Meinungsklima entstehen lassen, in dem eines der
letzten Tabuthemen dem Tresor des Vergessens entrissen wird.
Ähnlich wie über die Umstände der Vertreibung war über den Luftkrieg jahrzehntelang mehr geschwiegen als geschrieben worden. "Die Bilder dieses grauenvollen Kapitels unserer Geschichte" seien "nie richtig über die Schwelle des nationalen Bewusstseins getreten", dozierte 1997 der in England lehrende deutsche Literaturwissenschaftler und Schriftsteller W. G. Sebald in seiner berühmten Züricher Vorlesung (SPIEGEL 3/1998).
Einige wenige Ausnahmen bestätigen die von Sebald aufgestellte Regel, dass die Folgen der bis dahin größten Zerstörungsaktion der Weltgeschichte "nie wirklich in Worte gefasst" worden seien. Heinrich Böll zum Beispiel hatte schon in den Vierzigern eindringlich das Elend im zertrümmerten Deutschland geschildert. Doch veröffentlicht wurde der verstörend realistische Roman "Der Engel schwieg" erst 1992, mehr als 40 Jahre nach seiner Entstehung.
Leichen, die in den über 1000 Grad heißen Feuersbrünsten auf die Größe von Kommissbroten schrumpfen; Säuglinge, die im siedenden Löschwasser der Feuerwehr bei lebendigem Leibe gesotten werden; Kinder, die ihre zu Asche verbrannten Eltern im Eimer zum Friedhof tragen: An den Versuch, solcherart Unbeschreibliches zu beschreiben, wagte sich als einer von wenigen Autoren auch Dieter Forte, Jahrgang 1935, der einst als Achtjähriger in einem Düsseldorfer Arbeiterviertel Höllennächte durchlitten hatte.
Die Arbeit an seinem Roman "Der Junge mit den blutigen Schuhen" musste
Forte zeitweise abbrechen, "weil ich es nicht mehr ertragen
konnte, weil ich krank wurde darüber und der Notarzt kommen musste".
Fortes Erinnerungen fanden beim Publikum wenig Beachtung,
ebenso wie in den Nachkriegsjahren beispielsweise die "Vergeltung"
von Gert Ledig oder "Der Untergang" von Hans Erich Nossack,
gewidmet dem Hamburger Feuersturm.
Darin beschrieb Nossack die Arbeit der Bergungskommandos, die sich mit
Flammenwerfern den Weg durch die Todeszone bahnten -
die Leichenberge waren von fingerlangen Maden besiedelt, von riesigen
Ratten umhuscht und von grün schillernden Schmeißfliegen
umschwärmt, so groß, wie er sie "nie gesehen" hatte.
Solche Alpträume wollte die Wiederaufbaugeneration der Davongekommenen,
der Kriegsheimkehrer und der Vertriebenen, der
Kellerkinder und der Trümmerfrauen möglichst rasch verdrängen.
"Wiederaufbau und Verdrängung - das vertrug sich gut, ja das
bedingte einander", erinnert sich der Sozialdemokrat und Ex-Minister
Hans Apel an den Hamburger Feuersturm, der 44 Prozent aller
Wohnungen der Stadt in Schutt und Asche legte.
Zu einem ähnlichen Urteil wie Apel war auch Sebald gekommen: Als
"Quelle der psychischen Energie" der Aufbaugeneration
identifizierte er "das Geheimnis der in die Grundfesten unseres Staatswesens
eingemauerten Leichen".
Bombenkriegswerke wie Nossacks "Nekyia" oder "Der Untergang" - ein Buch,
das Thomas Mann einst als "Dokument für immer"
gerühmt hatte - gerieten in Vergessenheit. Heutzutage, glaubt
der Schriftsteller Hannes Schwenger, würden die meisten Nachgeborenen
"Nekyia vermutlich für eine Handy-Marke halten".
Verstärkt wurde der Drang zum Verdrängen durch einen von Sebald
beschriebenen "psychologisch-biologischen Mechanismus":
Schockerfahrungen seien "nicht erzählbar", denn "gerade das, was
einen umgeworfen hat, kann man nicht erinnern". Bei vielen
Menschen sei zudem das Gefühl im Spiel gewesen, in den Bombennächten
hätten die Deutschen "ein Stück Schuld" am Holocaust und
am Zweiten Weltkrieg mit seinen mehr als 55 Millionen Opfern abgetragen.
Auch der Hamburger Apel erinnert sich, dass nach dem Krieg die Einstellung
vorgeherrscht habe: "Wir haben Fehler gemacht und bitter
dafür bezahlen müssen. Schlussstrich. Ende. Von vorn anfangen!"
Kaum jemand wagte es fortan, öffentlich die Frage aufzuwerfen,
ob die Flächenbombardierungen der Angloamerikaner im Zweiten
Weltkrieg tatsächlich allesamt militärisch unabdingbar und
ethisch vertretbar gewesen seien. Ob es um Dresden ging, das noch kurz
vor
Kriegsende pulverisiert wurde, oder um die Atombombenabwürfe auf
japanische Großstädte im Sommer 1945, drei Monate nach der
Waffenruhe in Europa - mitverursacht worden sei das Verschweigen, so
Sebald, zunächst durch die Furcht, "sich unbeliebt zu machen
bei den Besatzungsbehörden". Später trug die Nato-Solidarität
mit den rasch zu Verbündeten mutierten Feinden dazu bei, kritische
Fragen zu ersticken. Nur die DDR leistete sich regelmäßig
Dresden-Gedenktage, die sie allerdings, insbesondere im Kalten Krieg,
instrumentalisierte für ihre Hetze gegen den kapitalistischen
Westen und dessen "Luftgangster".
Während der DDR-Historiker Olaf Groehler immerhin einen (bald vergriffenen)
450-Seiten-Wälzer über den "Bombenkrieg gegen
Deutschland" vorlegte, ging die westdeutsche Geschichtswissenschaft
dem Thema lange aus dem Weg - nicht zuletzt aus Furcht, in den
Verdacht zu geraten, mit Kritik an den alliierten Massentötungen
den nationalsozialistischen Völkermord relativieren zu wollen.
"Die Erinnerung an die Toten des Luftkriegs gilt als schändlich",
befand jüngst noch die "Süddeutsche Zeitung". Jede Beschreibung
des
Bombenkriegs, urteilte die "FAZ", stehe "unter Entlastungsverdacht".
So blieb ausgerechnet der Umgang mit jener Katastrophe, die Deutschland
stärker verändert hat als jedes andere Ereignis seiner
Geschichte, den Radikalen an den Rändern der Republik überlassen.
Glatzköpfige Neonazis in Springerstiefeln traten am Jahrestag der
Luftangriffe zum "Trauermarsch" durch Dresden an.
Gesinnungskameraden wie der kanadische Nazi Ernst Zundel breiten im
Internet genüsslich die Gräuel des Bombenkriegs aus, um den
Völkermord an den Juden zu leugnen: Der "wirkliche Holocaust"
habe sich in "Hamburg, Dresden, Tokio, Hiroshima und Nagasaki
zugetragen".
Deutsche Linksextremisten wiederum versuchen, nicht minder hirnrissig,
ihre rechtsradikalen Antipoden an den Jahrestagen der
Schreckensnächte mit Freudenfesten zu provozieren und preisen
die Kinder- und Frauenverbrennung von Hamburg oder Dresden forsch
als politisches "Erziehungsmittel". In Bremen feierten "Antinationale"
eine "Party" mit dem Motto "Tanz den Bomber-Harris". In Berlin
lud eine "Antifaschistische Aktion" zu einem Fest ("Danke, England")
vor die britische Botschaft: "Ob New York, London, Paris - alle
lieben Bomber-Harris!"
In Wahrheit blickt das politische England heute mit eher zwiespältigen
Gefühlen auf die Verwüstungen zurück, die der Bombenkrieg
in
Deutschlands Städten hinterließ. Zwar gilt Kriegsherr Churchill,
wie jüngst eine Umfrage bestätigte, im Volk nach wie vor als
der
"Greatest Briton". Seinem Vollstrecker, dem "Bomber-Harris", wurde
1992 in London, in Gegenwart der Queen Mum, sogar ein Denkmal
errichtet. Als sich in Deutschland daraufhin Protest regte, ätzten
Blätter wie der "Evening Standard": "In jeder deutschen Stadt sollte
eine Statue dieses Mannes stehen."
Unvergessen ist in Großbritannien allerdings auch, dass Harris
nach Kriegsende, im Gegensatz zu anderen prominenten Generälen,
nicht in den Rang eines Lords erhoben wurde. Und bei vielen britischen
Veteranen wirkt bis heute der Schock nach, der sie erfasste, als
sie 1945 in Germany einmarschierten und die Folgen der Flächenbombardierungen
wahrnahmen: Das Land war, im Jargon der Militärs,
"overbombed".
"Die physische Vernichtung Deutschlands", schreibt der englische Bombenkriegsexperte
Max Hastings, habe bei den okkupierenden
Truppen "wachsendes Entsetzen" ausgelöst. Vielleicht deshalb haben
auch viele Briten, so sein Kollege Mark Connelly von der
Universität Kent, "es immer vermieden, über das Flächenbombardement
zu reden".
Zu Beginn der vierziger Jahre waren die Engländer überwiegend
der Ansicht, dass die Bombardierung deutscher Industriestädte ganz
okay sei. Schließlich hatte Hitler begonnen, sich, für jedermann
erkennbar, über alle Konventionen zum Schutz der Zivilbevölkerung
hinwegzusetzen, die noch im Ersten Weltkrieg allgemein akzeptiert worden
waren.
"Schockerfahrungen sind nicht erzählbar - gerade das, was einen umgeworfen hat, kann man nicht erinnern."
Nicht nur, dass deutsche Flugzeuge bereits 1937, im Spanischen Bürgerkrieg,
Guernica vernichteten - eine Gräueltat, die Pablo Picasso
zu seinem berühmtesten Wandbild inspirierte. Schon bald nach dem
Überfall auf Polen ließ Hitler Warschau, acht Monate später
Rotterdam bombardieren. Und nach der Besetzung Frankreichs versuchte
Hermann Görings Luftwaffe im Sommer 1940, Großbritannien
in die Knie zu zwingen.
"The Blitz", wie die Engländer die Luftattacke nannten, scheiterte
nur, weil sich die Royal Air Force (RAF) in der "Battle of Britain" nach
anfänglicher Unterlegenheit schließlich behaupten konnte.
Die Nazis brachen die Luftschlacht ab und schickten ihre Bomber gen Osten.
Doch das Empire war angeschlagen - allein im "Blitz" kamen mehr als
40 000 Menschen um, die Hälfte davon in London, wo die
Luftwaffe unterschiedslos Wohn- und Industriequartiere planierte. In
der Kathedralen-Stadt Coventry (568 Ziviltote) und anderswo
hatten die Nazis, wie sie zynisch formulierten, ganze Viertel "coventriert".
Goebbels jubilierte: "Da ist eine Stadt wirklich ausradiert
worden."
Mit jedem Luftangriff schwoll in England der Ruf nach Vergeltung an
- und damit die Popularität des Premiers mit dem Victory-Gruß
und
der dicken Zigarre, von dem sich das Volk Rettung versprach und Rache.
Manch ein Baby, das im Bombenhagel zur Welt kam, wurde
nach dem Hoffnungsträger benannt - so auch der kleine John Winston
Lennon, geboren am 9. Oktober 1940, der später als Beatle
("Give Peace a Chance") ebenso berühmt werden sollte wie sein
Namenspate.
"Wer Wind sät, wird Sturm ernten", beschrieb jüngst ein Churchill-Enkel,
mit Vornamen ebenfalls Winston, die 1940/41 in London
vorherrschende Stimmung.
Die deutsche Führung wähnte sich unterdessen unverwundbar.
Im Reich machte ein Wort die Runde, das die Volksgenossen dem
großsprecherischen Hermann Göring zuschrieben: "Ich will
Meier heißen, wenn je ein feindliches Flugzeug deutsches Territorium
erreicht." Kaum jemand mochte sich vorstellen, dass sehr bald schon
über tausend Bomber zugleich über dem Reichsgebiet auftauchen
würden, dass neue Erfindungen die deutsche Luftabwehr lahm legen
und englische Superbomben eines Tages sogar Staudämme
sprengen und angeblich bombensichere Bunker knacken könnten.
Der Kraftakt, mit dem Großbritannien nach einer Schwächephase
die Lufthoheit über Deutschland erringen sollte, wurde durch eine
Kehrtwende im britischen Kriegskabinett bewirkt. Letzter Auslöser
für eine gigantische Intensivierung der Luftrüstung, aber auch
für eine
beispiellose Brutalisierung des Luftkriegs war Hitlers Operation "Barbarossa",
der Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941.
Fortan drängte Stalin, dessen Armeen bald Tagesverluste von bis
zu 10 000 Soldaten hinnehmen mussten, seinen Verbündeten zur
Errichtung einer Entlastungsfront im Westen. Doch zum Aufbau einer
"Zweiten Front" war England damals nicht in der Lage; Churchill
musste darauf bedacht sein, dem Empire den Blutzoll einer Bodenoperation
zu ersparen.
Er setzte stattdessen auf das Bomber Command, dessen Leitung er im Februar
1942 dem routinierten Luftkrieger Harris übertrug.
Dessen Kameraden, Männer fürs Grobe, hatten in Kolonialkriegen
wie im Sudan (1916), in Afghanistan (1919) oder Iran (1920)
Volksaufstände niedergebombt - bisweilen so brutal, dass, etwa
1923 im Irak, sogar ein Generalstabsoffizier namens Lionel Charlton
das "blinde Bombenwerfen auf die Bevölkerung" als "sinnloses Massaker"
anprangerte.
Churchill, in jenen Jahren Rüstungs- und Kolonialminister, reagierte
auf Berichte über solche Gräueltaten gegen Frauen und Kinder
"zutiefst schockiert" - er wünschte keine derartigen Reports mehr
zu erhalten: "Sollte so etwas veröffentlicht werden, wären die
Luftstreitkräfte entehrt." Damals, urteilt der schwedische Publizist
Sven Lindquist, wollte Churchill "Ergebnisse, aber er wollte nicht
wissen, wie sie zu Stande kamen".
Der deutsche Militärhistoriker Horst Boog warf unlängst die
Frage auf, ob nicht "aus der Kolonialkriegserfahrung der RAF eine bestimmte
Mentalität entstanden ist, die sich möglicherweise auf den
Bombenkrieg gegen Deutschland übertrug".
Nach "Blitz" und "Barbarossa" ließ Churchill fast nur noch Flächenangriffe
auf deutsche Städte fliegen. Dennoch behauptete er
gegenüber Presse und Parlament, dass die Angriffe ausschließlich
gegen militärische Ziele gerichtet seien.
In einem geheimen Memorandum rechtfertigte Churchill selbst die "Bombardierung
ungeschützter Städte", die noch im Ersten Weltkrieg
als "verboten" angesehen worden sei, mit dem Argument, derlei gelte
mittlerweile als "Selbstverständlichkeit": "Es ist ganz einfach eine
Frage der Mode, die hier genauso wechselt wie zwischen langen und kurzen
Frauenkleidern."
Als Stalin seinem britischen Verbündeten im Sommer 1942 bei einem
Treffen in Moskau erregt vorwarf, England lasse die Sowjetunion
im Stich, besänftigte Churchill ihn mit dem Versprechen, den britischen
Kriegsbeitrag zu verstärken: Die RAF werde "nahezu jede
Wohnung in fast jeder deutschen Stadt" zerstören. "M. Stalin smiled
and said that would not be bad", heißt es im Protokoll des
Treffens.
"Für Churchill stellte der Luftkrieg über Deutschland eine
Art Kompensation für die ausbleibende Zweite Front dar", urteilt der
Historiker
Lothar Kettenacker vom Deutschen Historischen Institut in London. Bis
zur deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 blieben die Bomber,
von deren mehr als 100 000 Crew-Mitgliedern nur ungefähr jeder
Zweite überlebte, der wichtigste Beitrag des Empire im Kampf gegen
die Achsenmächte.
Entsprechend spektakulär musste die Vernichtungswirkung der Luftangriffe
ausfallen - schon damit London seine Bedeutung für das
Bündnis unterstreichen und nach Kriegsende bei den Verhandlungen
über die Neuordnung Europas eine günstige Verhandlungsposition
gegenüber der Sowjetunion einnehmen konnte.
Dass die Zerstörungen in Wohngebieten keine unvermeidbaren Kollateralschäden
darstellten, räumen auch britische
Geschichtswissenschaftler ein: "Es besteht kein Zweifel daran, dass
die Bombardierung von Zivilisten absichtlich erfolgte", urteilt der
Historiker Connelly.
"Wir werden Deutschland zur Wüste machen, ja, zu einer Wüste",
hatte Churchill schon im "Blitz"-Jahr 1940 angekündigt. Damals
allerdings verfügte die RAF weder über eine ausreichende
Zahl von Bombern und Piloten noch über geeignete Navigations- und
Waffentechniken, um die Drohung wahr zu machen.
Die Nachtflieger, die sich häufig verfranzten, warfen ihre Bombenlast
zeitweise "überall ab, wo ein Licht auf das Vorhandensein einer
Siedlung wies" (Friedrich). Bei einem Angriff von 50 britischen Bombern
auf die Reichshauptstadt im August 1940 wurde gerade mal
eine hölzerne Gartenlaube getroffen; zwei Berliner erlitten leichte
Verletzungen.
Wie wenig treffsicher die britischen Bomberpulks in jener Kriegsphase
waren, dokumentiert ein Geheimbericht aus dem Jahre 1941:
Selbst bei Idealwetter konnte nur jede dritte Maschine ihre Bomben
in einem Umkreis von acht Kilometern um den Zielpunkt abwerfen.
Die Gefährdung der Piloten durch Flugabwehr und Jagdflieger indessen
war selbst bei den üblichen Nachtflügen so groß, dass die
Wahrscheinlichkeit, die üblichen 30 Einsätze zu überleben,
gegen null tendierte.
Angesichts der Unfähigkeit des Bomber Command, Anfang der vierziger
Jahre nächtliche Punktangriffe vorzunehmen, lag es für das
Londoner Kriegskabinett nahe, aus der Not eine Untugend zu machen und
Flächenziele anzupeilen - statt einzelner Fabriken ganze
Großstädte.
In seiner "Area Bombing Directive" vom 14. Februar 1942 schrieb das
Luftfahrtministerium als künftiges "Hauptziel" des Bomber
Command fest, durch Flächenbombardements "die Moral der gegnerischen
Zivilbevölkerung, insbesondere die der
Industriearbeiterschaft", zu zerstören. Um Missverständnisse
auszuschließen, fügte das Ministerium hinzu, "dass die Zielpunkte
die
Siedlungsgebiete sein sollen und beispielsweise nicht Werften oder
Luftfahrtindustrien. Dies muss ganz klar gemacht werden".
Nach der Zerstörung Coventrys jubelte Goebbels: "Da ist eine Stadt wirklich ausradiert worden."
Im Mai 1942 zog Churchill nach eigenem Bekunden "die Handschuhe aus":
Nachdem er seine Luftflotte mit einem Crash-Programm
kräftig aufgestockt und mit neuen Zielfindungsverfahren ausgestattet
hatte, schickte er mehr als tausend Maschinen zur Operation
"Millennium" nach Köln. Folge: 480 Tote, 5000 Verletzte, 3300
zerstörte Gebäude. Luftaufnahmen der rauchenden Ruinenskelette
ließ
Exekutor Harris säuberlich in ein blaues Album kleben und Stalin
überreichen.
Jede deutsche Stadt, kündigte Churchill an, solle fortan einer
"Feuerprobe" unterworfen werden, "wie sie kein Land an Unablässigkeit,
Strenge oder Umfang bisher erlebt hat". Den Angriff auf die Domstadt
- die bis Kriegsende weitere 261-mal bombardiert werden sollte -
nannte er "die Vorankündigung dessen, was eine deutsche Stadt
nach der anderen von uns hinnehmen muss".
Trotz gelegentlicher Skrupel ließ sich Churchill von seiner Strategie
der Zivilistenvernichtung nicht abbringen - auch nicht durch Proteste
aus der Kirche.
Vergebens richtete der Bischof von Chichester, George Bell, im Februar
1944 in einer tumultuarischen Oberhaus-Sitzung seinen
Bannstrahl auf die Flächenbombardierung: "Die Nazi-Mörder
in die gleiche Reihe mit dem deutschen Volk zu stellen heißt, die
Barbarei
voranzutreiben." Denn: "Eine ganze Stadt auszulöschen, nur weil
sich in einigen Gebieten militärische und industrielle Einrichtungen
befinden, negiert die Verhältnismäßigkeit."
Eine andere Strategie als die Briten verfolgten anfangs die Amerikaner,
die ihre "Fliegenden Festungen" vom Typ B-17 nach
Deutschland schickten: Während für die englischen Nachtbomber
das Harris-Motto galt, die RAF müsse alles zerstören, um wenigstens
etwas zu zerstören ("To be certain of destroying anything, it
was necessary to destroy everything"), flogen die US-Tagbomber der USA
vorzugsweise Präzisionsangriffe auf Industrieanlagen.
Allerdings: Als die USA 1944 zwecks Vorbereitung der Invasion verstärkt
zur Bombardierung von Bahnanlagen übergingen, verwischten
sich die Unterschiede zwischen britischen Flächen- und amerikanischen
Punktabwürfen. An die Stelle gleichsam chirurgischer Schläge
trat nun auch bei den US-Luftkriegern der "radargeleitete flächendeckende
Sättigungs- und Bombenteppichangriff" (Groehler).
Gegen Kriegsende häuften sich neben taktischen Einsätzen,
die der Bodeninvasion den Weg bereiten sollten, reine
Bestrafungsaktionen gegen militärisch unbedeutende Städte
wie Dresden. Briten wie Amerikaner waren in dieser Kriegsphase
gleichermaßen darauf bedacht, größtmöglichen
Schrecken zu erregen und größtmöglichste Verwüstungen
zu hinterlassen.
Nachdem US-Flugzeuge noch im Frühjahr 1945 beispielsweise über
dem 1500-Seelen-Kaff Ellingen bei Nürnberg 70 Tonnen Bomben
abgeladen hatten, räumte US-Luftwaffengeneral Frederick Anderson
freimütig ein, solche Angriffe könnten den Krieg zwar nicht
verkürzen. Er glaube aber, "dass die Tatsache, dass Deutschland
einfach überall getroffen wurde, noch vom Vater an den Sohn und
dann an den Enkel weitergegeben wird; und dass dies auf jeden Fall
der Abschreckung für das Anzetteln künftiger Kriege dienen wird".
Von Januar bis Mai 1945 töteten alliierte Bomber bei reinen Vergeltungs-
und Strafaktionen im Tagesschnitt mehr als 1000 Zivilisten.
Ein Terrorangriff auf Würzburg, bei dem über Nacht 89 Prozent
der Barockstadt zerbombt wurden, forderte noch am 16./17. März 1945
rund 5000 Tote.
Der Kriegsgegner war praktisch geschlagen, die Kriegsmaschinerie jedoch
schien nicht gestoppt werden zu können: Dutzende Städte
wurden 1945 nur deshalb zerstört, weil sie noch unzerstört
geblieben waren. Und Harris schreckte nach seinen eigenen Worten nicht
einmal davor zurück, "zerstörte Städte nochmals zu zerstören,
um etwa darin wiedererstandene Industrien zu vernichten".
Aus der Luft beiseite geräumt wurden kurz vor dem Waffenstillstand
die historischen Stadtkerne unter anderem von Freiburg,
Heilbronn, Nürnberg, Hildesheim, Mainz, Paderborn, Magdeburg,
Halberstadt, Worms, Pforzheim, Chemnitz, Trier, Potsdam und Danzig.
Erst Ende März, nach der Zerstörung Würzburgs, ging
Churchill vorsichtig auf Distanz zu seinen fliegenden Terroristen - allerdings
keineswegs aus humanitären Erwägungen: "Der Moment ist gekommen,
in dem die Bombardierung der deutschen Städte einfach zu
dem Zweck gesteigerten Terrors überdacht werden sollte. Sonst
werden wir demnächst ein völlig ruiniertes Land kontrollieren."
Die schlimmsten Zerstörungen hatte - in Dresden, Pforzheim, Hamburg,
Kassel und einem Dutzend anderer Städte - die wohl
grausamste Waffe diesseits der Atombombe angerichtet: der mit wissenschaftlicher
Präzision entfachte Feuersturm.
Schon Anfang der Vierziger war britischen Luftkriegsexperten aufgegangen,
dass sie allein mit Sprengbomben den Gegner kaum
beeindrucken konnten. Eher durch Zufall entdeckten sie, dass leichte
Brandstäbe - ursprünglich nur zur Zielausleuchtung abgeworfen
-
gegenüber den schweren Luftminen ein Vielfaches an Vernichtungskraft
entfalten können.
Das Ziel des "moral bombing", so Harris, müsse "erreicht werden
durch Brand". In der "Operation Millennium" warfen seine tausend
Bomber im Frühjahr 1942 daher 1350 Tonnen Sprengbomben, aber 460
000 Tonnen Brandbomben auf Köln. Mehr Feuer als Stahl fiel
anschließend auch in der so genannten Ruhrschlacht vom Himmel,
bei der rund 21 000 Zivilisten umkamen.
Einen dänischen Reporter erinnerten die Bilder ausgebrannter Ruhrstädte
an "Luftaufnahmen von Pompeji". Auf welche Weise sich die
so gestifteten Flächenbrände zum alles vernichtenden Feuersturm
steigern lassen, demonstrierte ein Jahr später der Angriff auf das
völlig überrumpelte Hamburg; die deutsche Radarabwehr hatten
die Briten durch den Abwurf von Millionen Stanniolstreifen
ausgeschaltet.
"Die Nazi-Mörder in die gleiche Reihe mit dem deutschen Volk zu stellen heißt, die Barbarei voranzutreiben."
An Elbe und Alster zeigte sich, dass sich Menschen fressende Feuerstürme,
zerstörerischer als jede Naturkatastrophe, künstlich
auslösen lassen - durch eine raffinierte Kombination diverser
Waffen:
Zuerst werden Luftminen - darunter riesige
"Blockbuster" (Wohnblockknacker) - abgeworfen, deren Druckwellen Dächer
abdecken, Fenster wegblasen und Brandmauern
einstürzen lassen;
dann regnen Brandstäbe und Phosphorbomben
in die geknackten Häuser, in denen nunmehr Zugluft wie durch einen
Kamin
rauscht und jeden kleinen Brandherd zum Großbrand
anwachsen lässt;
schließlich werden durch Spreng- und
Splitterbomben, teils mit Zeitzünder, Wasserleitungen zerstört,
Straßen verkratert und
Löschtrupps ausgeschaltet, so dass sich
die zahllosen Einzelbrände ungehindert zu einem einzigen rasenden
Flammenmeer
vereinigen können.
Teuflische Folge dieser Technik: Über den in Brand gesteckten Stadtteilen
bildet sich eine gigantische Heißluftsäule, die orkanartige
Stürme produziert und Tausende Tonnen Sauerstoff ansaugt. Die
Menschen, gleich ob sie sich im Keller verbergen oder ins Freie
fliehen, krepieren an Hitzschlag oder Überdruck, Verbrennungen
oder Kohlenmonoxidvergiftung.
"Eine Bomberflotte, die bis zu eine Million Stabbrandbomben abregnet,
hat von vornherein kein Ziel im Auge, erst recht kein
militärisches Ziel, sondern einen Raum", verurteilt Friedrich
diese völkerrechtswidrige Kriegstechnik: "Fabrik und Bahnhof, Arbeiter
und
Arbeiterkind, Hitlergegner im Gefängnis und Arbeitssklave - sie
alle verbrennen in gleicher Weise."
An der Perfektionierung der neuen Tötungstechnik waren sowohl amerikanische
als auch britische Wissenschaftler beteiligt. Die USA
beauftragten 1943 eigens den aus Deutschland emigrierten Stararchitekten
Erich Mendelsohn, auf einem geheimen Versuchsgelände in
der Wüste von Utah Kopien Berliner Mietskasernen samt Mobiliar
und Gardinen aufzubauen, um deren Entflammbarkeit zu testen
(SPIEGEL 41/1999).
Bereits im November 1941 hatte Churchills Bomber-Chef Harris unter dem
Deckwort "Unison" (Gleichklang) 19 deutsche Städte nach
ihrer Brandanfälligkeit katalogisieren lassen. Ergebnis: Als wenig
geeignet galten Frankfurt und Kiel mit ihren steinernen Zentren, als
lohnende Ziele Orte wie Bremen ("altes Stadtzentrum, brennt gut") und
Freiburg ("Holzhäuser, enge Straßen").
Als geradezu ideal stellte sich den Brandkriegsplanern das rasch erreichbare
und gut zu ortende Lübeck mit seinem verschachtelten
historischen Kern dar. Die Stadt, frohlockte Harris, sei "eher wie
ein Feueranzünder denn als menschliche Behausung gebaut". In der
Vollmondnacht zum 29. März 1942 ließ Harris bei einer Art
Probelauf die militärisch bedeutungslose Altstadt von 234 Maschinen
mit 25
000 Brandstäben anzünden; unter der Feuerwalze starben mehr
als 300 Menschen.
In den USA schwante dem Exil-Lübecker Thomas Mann nun, "was den
deutschen Städten gerechterweise, notwendigerweise,
unentbehrlicherweise bevorsteht", und ein "gelinder Schrecken" erfasste
den Schriftsteller.
Tatsächlich glich der Testlauf von Lübeck, gemessen an dem,
was folgen sollte, einem Nadelstich. Nachdem sich die USA und
Großbritannien im Januar 1943 bei der Konferenz von Casablanca
auf eine kombinierte Luftkriegsführung geeinigt hatten, offenbarte
ein halbes Jahr später der Hamburger Feuersturm die apokalyptischen
Dimensionen der Brandstiftungsstrategie.
"Hamburg geht unter", schrieb der Emigrant Bertolt Brecht am 26. Juli
in Los Angeles in sein Arbeitsjournal: "Über ihm steht eine
Rauchsäule, die doppelt so hoch ist wie der höchste deutsche
Berg."
Gut einen Monat später, nachdem er von Bombenangriffen auf Berlin
erfahren hatte, notierte Brecht: "Das Herz bleibt einem stehen."
Weil die Luftangriffe auf die Innenstadt "nicht mit militärischen
Operationen verknüpft" seien, "sieht man kein Ende des Kriegs,
sondern nur ein Ende Deutschlands".
Erklärtes Ziel der alliierten Luftkrieger war zu jener Zeit, auch
die Reichshauptstadt zu "hamburgisieren", ein Wort, das im Herbst 1943
in London aufkam. RAF-Chef Charles Portal wünschte "Angriffe auf
Berlin im Hamburger Maßstab". Harris versprach: "Wir können
Berlin
von einem Ende bis zum anderen einäschern ... Es wird uns 400
bis 500 Flugzeuge kosten. Es wird Deutschland den Krieg kosten."
Mehrmals holten die Alliierten zu einem zermalmenden Vernichtungsschlag
aus. Allein die "Battle of Berlin" von November 1943 bis
März 1944 forderte 10 000 Todesopfer, machte ein Viertel des Zentrums
dem Erdboden gleich und ließ 1,5 Millionen Berliner obdachlos
werden.
Doch es misslang, den ersehnten Feuersturm zu entfesseln. Die Zerstörungsarbeit
in Berlin gestalte sich schwieriger als anderswo,
klagte der US-Brandkriegsexperte Horatio Bond vor dem nationalen Rüstungsforschungsausschuss:
"Die Bauqualität ist höher, und die
einzelnen Blocks sind besser voneinander getrennt."
Im August 1944 unterbreitete Churchill dem US-Präsidenten einen
Plan für eine "Operation Thunderclap" (Donnerschlag), bei der 220
000 Berliner bei einem einzigen Großangriff von 2000 Bombern
verwundet oder getötet werden sollten.
Roosevelt stimmte grundsätzlich zu; seine Meinung über die
deutsche Zivilbevölkerung pflegte er nicht zu verhehlen: "Wir müssen
hart
mit Deutschland umgehen, und ich meine die Deutschen, nicht nur die
Nazis. Entweder müssen wir das deutsche Volk kastrieren oder
ihm so eine Behandlung verpassen, dass es nicht weiter Nachwuchs zeugen
kann, der dann immer so weitermachen will wie in der
Vergangenheit."
Ausdrücklich sollte "Thunderclap" der Bombardierung von Wohngebieten
dienen. "Da das Hauptziel einer solchen Operation sich in
erster Linie gegen die Moral richtet und psychologischen Zwecken dient",
hieß es im Konzept, "ist es wichtig, dass sie mit einer solchen
Zielsetzung im Kopf gestartet wird und nicht auf die Vororte der Stadt
ausgedehnt wird, auf solche Ziele wie Panzerwerke,
Düsenjägerwerke usw."
Während sich die Russen Anfang 1945 rasch dem Reichsgebiet näherten,
wurde der Donnerschlag realisiert, erweitert um die Zielorte
Leipzig und Dresden. Im Hintergrund standen nach Ansicht des US-Kriegsforschers
Mike Davies "Gründe, die ebenso viel mit der
Beendigung des Zweiten Weltkriegs zu tun hatten wie mit dem späteren
Kalten Krieg".
Tatsächlich kalkulierten die Londoner RAF-Strategen, die "völlige
Verwüstung" einer Großstadt "würde unsere russischen Verbündeten
und die neutralen Staaten von der Schlagkraft der angloamerikanischen
Luftstreitkräfte überzeugen".
Angesichts des erfolgreichen Vormarschs der Roten Armee, urteilt der
Historiker Groehler, hätten die Westalliierten mit "Thunderclap"
ihren Anspruch festigen wollen, "eine wenn auch nicht entscheidende,
so doch zumindest ausschlaggebende Rolle im Verlauf des
Zweiten Weltkriegs gespielt zu haben".
In Berlin forderte der Donnerschlag am 3. Februar 1945 rund 3000 Tote,
in Dresden kam es zum gewünschten Feuersturm. In der
Elbmetropole reichten die Kräfte der Überlebenden nicht aus,
die nach Zehntausenden zählenden Toten zu beerdigen;
Bergungskommandos mit KZ-Erfahrung mussten Scheiterhaufen errichten.
Die "bewussten Terrorangriffe" (so damals die amerikanische Nachrichtenagentur
AP) galten einer Stadt, die mit Zehntausenden
Elendsgestalten überfüllt war, die vor den heranrückenden
Russen geflüchtet waren. Offiziell begründet worden war die Operation
mit
dem Argument, es gelte "Verwirrung in die Evakuierung aus dem Osten"
zu tragen.
Nach den Maßstäben der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse,
gab SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein 1985 zu bedenken, hätte
auch Churchill "hängen müssen" - "zumindest als Oberbomber
von Dresden, zu einem Zeitpunkt, als Deutschland schon erledigt war".
Was sich zwischen den Trümmerhaufen und Leichenbergen der vom Feuersturm
heimgesuchten Städte zutrug, gemahnte nicht selten
an das biblische Armageddon. Identifizierungstrupps mussten Zangen
zum Ablösen von Ringen anfordern, weil allein deren Gravur
noch eine Chance bot, Brandleichen zu identifizieren. Überall,
wo der Orkan die Flammen über die Straßen trieb, wurden Menschen
zu
lebenden Fackeln, starben Flüchtende in den Blasen, die der kochende
Asphalt schlug.
Der sechseinhalbjährige Hamburger Wolf Biermann, der unter dem
gelben Stern aufgewachsen war und dessen
Vater im selben Jahr in Auschwitz ermordet wurde, entkam 1943 dem tosenden
Flammenmeer nur, weil seine
Mutter Emma mit ihm auf dem Rücken einen Elbkanal durchschwamm.
Jahrzehnte später dichtete der
Balladenmacher: "In jener Nacht fiel Schwefel aus den Himmeln in das
Fleet / Drei Männer brannten vor mir wie
Heil-Hitler-Fackeln ab / Das Dach von der Fabrik flog durch die Luft
wie ein Komet / Die Toten alle kleingebrannt
fürs enge Massengrab."
Erst in solchen Nächten erkannte manch ein Hamburger, wovon Goebbels
gesprochen hatte, als er am 18.
Februar 1943 im Berliner Sportpalast die Massen aufpeitschte: "Wollt
ihr den totalen Krieg? Wollt ihr ihn, wenn
nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt
noch vorstellen können?" Obwohl Hitlers Sechste
Armee erst knapp einen Monat zuvor in Stalingrad kapituliert hatte,
ließ ein donnerndes "Jaaaaa!" den
Sportpalast erbeben.
Fortan eskalierte das "moral bombing". Ziele waren vorzugsweise traditionell
antifaschistische Arbeiterviertel wie
im "roten Gürtel" um Berlin oder im Ruhrgebiet. Dennoch blieb
die Hoffnung des Londoner Bomber Command
unerfüllt, Deutschlands Proletariat werde sich, mürbe gebombt,
gegen Hitler erheben.
"Wenn man Menschen in die Steinzeit zurückbombt, denken sie nicht an Aufstände, sondern ans Überleben."
Die Bombardierten reagierten nicht mit Rebellion, sondern mit Abstumpfung.
"Wenn man Menschen in die Steinzeit zurückbombt",
schreibt der Augenzeuge Forte, "denken sie nicht an Aufstände,
sondern nur ans pure Überleben." Propagandistisch angeheizter Hass
auf die alliierten "Mörderbanden" und "Terrorflieger" und deren
angeblich jüdischen Hintermänner überlagerte lange Zeit
die Wut und
die Enttäuschung über die Nazi-Führung, die nicht einmal
für eine ausreichende Zahl sicherer Luftschutzbunker gesorgt hatte.
Als trügerisch erwies sich jahrelang auch die Hoffnung der Alliierten,
mit Bombenangriffen die Produktion deutscher Kriegsgüter stoppen
zu können. Schäden in Fabriken wurden oft binnen Wochen beseitigt,
dezimierte Belegschaften durch Zwangsarbeiter ersetzt,
Fertigungsstätten unter Tage verlagert - die Industrie konnte
die Angriffe erstaunlich gut verkraften.
Behindert wurden die Attacken auf die Betriebe nicht zuletzt durch die
von ihnen verursachte Luftverschmutzung. Die Dunstglocke, die
damals über dem Kohlenpott waberte, erschwerte den Bomberpiloten
selbst am helllichten Tage und in sternklaren Nächten die
Zielsuche im Siedlungsbrei des Ruhrgebiets.
"Wir waren wütend", erinnert sich Forte, "wenn wir nach den Luftangriffen
aus den Kellern der verwüsteten Straßen stiegen und sahen,
dass die Fabriken, in denen Panzer und Geschütze gebaut wurden,
unversehrt geblieben waren. Sie blieben es bis zum Schluss, und
die Maschinen wurden nach dem Kriegsende demontiert."
Zu den ungelösten Rätseln der Weltkriegsgeschichte zählt
noch immer die Frage, warum die Alliierten es lange Zeit versäumt
haben,
das Hitler-Reich massiv an seiner verwundbarsten Stelle zu treffen:
Auf Anlagen der Mineralölwirtschaft, die den Sprit für die durch
Russland rasselnden Panzer produzierten, entfielen bis Mai 1944 nur
1,1 Prozent aller Bombenabwürfe.
Vermutungen reichen von dem Hinweis, dass ein Teil der Werke mit angloamerikanischem
Kapital errichtet worden war, etwa der
Standard Oil of New Jersey und der britischen Royal Dutch Shell, bis
hin zu einer Überlegung des Berliner Historikers Groehler: Es habe
im Interesse der Westalliierten gelegen, dass die deutschen Panzer
an der Ostfront genug Kraftstoff haben, um die Russen möglichst
lange vom Reichsgebiet fern zu halten - so lange jedenfalls, bis die
angloamerikanischen Invasoren weit genug vorgerückt waren, um
den kommunistischen Einfluss im Nachkriegseuropa begrenzen zu können.
Dieser Verdacht kursierte im April 1944 auch im Oberkommando der Luftwaffe:
Der Feind schone die Raffinerien und Hydrierwerke
womöglich deshalb, "um Deutschland nicht außer Stande zu
setzen, den Krieg gegen Russland weiterzuführen, da ein Abringen der
deutschen und russischen Kräfte in seinem Interesse liegt".
Nur spekuliert werden kann auch über die Frage, warum keine einzige
US-Bombe auf jene Schienenstränge geworfen wurde, auf denen
die Todeszüge nach Auschwitz rollten. Obwohl KZ-Flüchtlinge
im Frühsommer 1944 die Alliierten über die Existenz der Gaskammern
informiert hatten, schien dem Pentagon eine Bombardierung der Bahnanlagen
inopportun, aus welchen Gründen auch immer. Nachdem
ihm ein entsprechender Vorschlag vorgelegt worden war, befahl der US-Unterstaatssekretär
John McCloy: "Kill this."
So wie das monströse Ausmaß der NS-Vernichtungsmaschinerie
erst nach 1945 publik wurde, so brachten Historiker auch erst im
Nachhinein in Erfahrung, an welch grausamen Waffen die Angloamerikaner
bereits insgeheim für den Fall arbeiteten, dass sich der
Krieg weiter hinschleppen würde. Einige der Fundsachen in den
Militärarchiven lassen selbst Kriegswissenschaftler erblassen.
Churchill forderte seine zaudernden Stabschefs auf, notfalls "Deutschland mit Giftgas zu durchtränken".
Nachdem im Frühsommer 1944 deutsche Raketen in und um London mehr
als 2000 Menschen getötet hatten, forderte Churchill seine
zaudernden Stabschefs auf, sich darauf vorzubereiten, notfalls "Deutschland
mit Giftgas zu durchtränken". Die Möglichkeiten sollten
"von vernünftigen Leuten kaltblütig" durchdacht werden "und
nicht von diesen psalmensingenden uniformierten Miesmachern, die
einem hin und wieder über den Weg laufen".
Weil die Militärs für den Fall einer Anwendung von C-Waffen
entsprechende deutsche Gegenschläge befürchteten, plädierten
sie eher
für den Einsatz von Milzbrandbomben. Von denen hatte Churchill
bereits am 8. März 1944 bei den Amerikanern eine halbe Million
Exemplare geordert: "Wir sollten es als eine erste Lieferung betrachten."
Zwei Monate später wurden 5000 dieser Bomben über den
Atlantik transportiert.
Am 28. Juli 1944 allerdings gaben die Stabschefs ihre Ansicht zu Protokoll,
auf den B-Waffen-Einsatz solle vorerst verzichtet werden -
zu Gunsten von überwältigenden, möglichst finalen Brandangriffen
auf Städte wie Berlin oder Dresden. Churchill zeigte sich von dem
Vorschlag, die Anthrax-Bomben im Depot zu lassen, keineswegs begeistert:
"Aber ich kann natürlich nicht gegen Pfarrer und Krieger
gleichzeitig vorgehen. Die Angelegenheit soll weiterhin überprüft
und dann wieder zur Sprache gebracht werden, wenn sich die Lage
verschlechtert."
Die Lage verbesserte sich - nicht zuletzt, weil es den US-Fernbombern
1944 gelang, die deutschen Jägerstaffeln auszuschalten. So
konnten die Alliierten ihre Strategie der Städteverbrennung bis
zum Mai 1945 nahezu ungehindert fortsetzen.
Erst nach Kriegsende wurde bekannt, welche eigenen Luftkriegspläne
Hitler bereits entwickelt hatte - und wohl auch umgesetzt hätte,
wäre es anders gekommen. Geheime Pläne und Protokolle, nicht
nur über die deutsche Atom- und Raketen-Entwicklung, offenbaren
verblüffende Parallelen im Denken der Militärstrategen beiderseits
der Front.
Luftmarschall Göring hatte bereits 1938 den Bau eines Flugzeugs
zur Bombardierung New Yorks gefordert. 1941 drängte Hitler auf
rasche Umsetzung dieser Pläne, um "mit Terrorangriffen auf amerikanische
Millionenstädte den Juden eine Lektion erteilen zu
können".
Daimler-Benz-Ingenieure entwarfen 1944 einen "Amerikabomber": Viermotorige
Transporter sollten einen als "reines Verlustgerät"
konzipierten Kleinbomber ausklinken, der Hochhäuser wie das Empire
State Building hätte bombardieren können - Osama Bin Laden
lässt grüßen.
Schon 1940, drei Jahre vor dem Feuersturm von Hamburg, hatte sich Hitler
fasziniert gezeigt von der Möglichkeit, die britische
Hauptstadt einzuäschern. Bei einem Abendessen in der Reichskanzlei,
bezeugte Rüstungsminister Albert Speer nach dem Krieg, habe
der Führer phantasiert: "Haben Sie einmal eine Karte von London
angesehen? Es ist so eng gebaut, dass ein Brandherd allein
ausreichen würde, die ganze Stadt zu zerstören, wie schon
einmal vor über 200 Jahren."
Hitler weiter: "Göring will durch zahllose Brandbomben mit einer
ganz neuen Wirkung in den verschiedensten Stadtteilen von London
Brandherde schaffen ... Die werden sich dann zu einem riesigen Flächenbrand
vereinigen. Göring hat dazu die einzig richtige Idee: Die
Sprengbomben wirken nicht, aber mit den Brandbomben kann man das machen:
London total zerstören! Was wollen die noch mit ihrer
Feuerwehr, wenn das erst einmal losgeht?"
War, bei alledem, der Brandbombenkrieg gegen die deutsche Zivilbevölkerung,
so fragte jüngst die "Welt", "notwendig oder ein
Verbrechen oder gar ein notwendiges Verbrechen?" Eine Antwort gab,
auf seine Weise, der sanfte Freiheitskämpfer Mahatma Gandhi,
der die britischen Kolonialherren mit seiner Strategie der Gewaltlosigkeit
aus seiner indischen Heimat vertrieben hatte.
Als hätte er Hitlers Geheimpläne gekannt, urteilte Gandhi
über die alliierte Luftkriegführung: "In Dresden und in Hiroschima
hat man
Hitler mit Hitler besiegt."
JOCHEN BÖLSCHE